Denken, bis es wehtut

 

Warum man sich Franz Josef Czernins 'die aphorismen. eine einführung in die mechanik' antun sollte.

Bernd Ternes

 

 

1983 veröffentlichte Christiaan L.Hart Nibbrig ein Buch mit Lese-Mate­rial übers Lesen und gab ihm den Titel Warum lesen?. Der Band wolle einladen zur Selbstbeobachtung beim Lesen, wolle Spaß bereiten, wolle ein Spielzeug zum Lesen sein. 1990 ging Marcel Bénabou mit seinem Buch Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe einen Schritt weiter und tastete sich an die Ungeheuerlichkeit heran, die das Vorhaben, ein Buch zu schreiben, für sich hat. 'Warum schreiben?' war hier das schon weniger spaßige Thema, obgleich sich auch Spurenelemente komischer Tragik finden ließen. Wer beide Bücher kennt und vielleicht auch noch, quasi mit der fundamentaleren Fragstellung 'Warum und wie le­ben?', Theodor W. Adornos 1951 veröffentlichte Reflexionen aus dem be­schädigten Leben, Minima Moralia (oder, als Alternative, die Aphoris­men E.M. Ciorans), der kann, sollte, muß sich Franz Josef Czernin an­tun, der gleich von mehreren Fragen angetrieben wird, nämlich: Warum und wie denken?; wie und warum Denken schreiben?; und: Was und warum ist Form?

"wüsste man, wie das geschieht, was man wollen nennt, dann wüsste man schon insofern nicht, was man wollen nennt, als man nichts wollen kann, wenn man weiss, wie das geschieht, was man wollen nennt" - sagt Franz Josef Czernin in einem seiner auf 8 Bände (plus Registerband) aus­gebreiteten Aphorismen (Bd.1, No.1.8:3.2, p32), die die Sonderzahl Verlagsgesellschaft seit 1992 in einer auf 300 Exemplaren limitierten Ausgabe denen, die es endlich wissen wollen, feilbietet. Da man davon auszugehen hat, daß die kaufenden Leser nicht wissen können, was das heißt: es endlich wissen zu wollen, werden sie wohl ohne viel Gedanken 400,- DM investiert haben; eine Investition, bis an sein Lebensende immer wieder zu Czernin greifen zu können und dem Quietschen, dem Hin­fallen, dem Reiben und Aufschlagen eigenen Mitdenkens beizuwohnen. Ge­treu dem Motto, daß nur das zusammenbrennt, was gemeinsam durch die Hölle geht, erzwingen Czernins Aphorismen, hat man sich erst einmal an den Schmerz des Mitdenkens gewöhnt, auf die Reise gehen zu müssen ins Kopfreich der Abstraktion, der sinnenlosen Syllogistik, die mit Be­griffen und Aussagen so arbeitet, als wären es Variablenzeichen für Terme. Auf dieser Lese- und Mitdenkreise erlebt man für Momente eine Ahnung an sich, was das bedeuten kann: kompliziert, meist aber komplex zu denken und dabei einer eigenen Sprache des Denkens gewahr zu wer­den, die sich in Erfahrung bringt einzig in einem verzweifelten Fest­halten der Gedankensyndrome, bis diese sich wieder in Luft auflösen. Die Unwahrscheinlichkeit und Fragilität des Begreifens wird erfahrbar, die Achtung vor dem, was Verstehen geheißen, steigt ins Unermeßliche; es ist so, als ob einem nicht mehr verständlich ist, daß es bei einer Rechenaufgabe (sagen wir 3+4) nur eine richtige und zugleich unendlich viele falsche Antworten gibt. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung dreht sich um 180 Grad; das Gespür für etwas Zusammenpassendes wird ange­sichts der erdrückenden Kompliziertheit all der Prozeduren, Bedingun­gen und Umstände, die das Realisieren des Aktes namens Zusammenpassen ermög­lichen, übersensibel: Es tut einem weh, schon nach wenigen Sätzen Czernins tut es einem weh mitzuerleben beim Mitdenkenversuchen, wie­viel erfüllt sein muß, damit sich überhaupt etwas ergibt. Man wird kleinlaut angedenk der durch Czernin aufgemachten Berge noch zu erle­digenden Denkens, und unfair sich selbst gegenüber, vergleicht man sein Denkpensum mit dem, was sich in den Aphorismen Ausdruck schafft: Man wird nicht umhin kommen, sich als denk­fauler Zaungast zu beschrei­ben, womöglich noch mit offenen Mund ob der admiratio und mit kindi­schen Fingerübungen, es Czernin nachzumachen. Und dann in die Überzeu­gung einzumünden, daß Denken letztlich davon lebt, sein Scheitern durch den Versuch zu garantieren, sich von dem zu unterscheiden, was man denkt resp. sich zu unterscheiden von seinem Denken. Er­laubt einem etwa Fern­ando Pessoas 'Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares' noch, in der admiratio eigene Erfah­rungen mitformu­liert zu le­sen, die man selbst zwar nie in solch' Form würde bringen können, die aber doch eigenes Unformuliertes und bis dato unformulier­bar Gewähntes transpor­tieren, verweist Czernin auf weiten Strecken seinen Leser in die Posi­tion des Gaffers, der vorge­führt bekommt, was dieser Schädel auf dem Hals im Verbund mit einer Schrift an Über-, Un­ter-, Bei- und Zuord­nung, an Synthese und Analyse zustande, zum ste­hen, zum Verstehen bringt. Es tut weh zu verstehen, und es tut weh, zu verstehen, wie we­nig Verstehen sich einem ange­freundet hat. Vorallem erstaunt, wieviel an Aussagen über Gesellschaft immer noch aus diesem einen Sachverhalt abzuleiten sind, nämlich: Menschen können nur mit anderen ihre Einsam­keit aushalten; aber sie halten andere Menschen auch nur deswegen aus, weil sie einsam sind.

Um weiter im Bild zu sprechen: Czernins Aphorismen lesen heißt, sich freiwil­lig in einen Hurrican begeben, alle auf einen zufliegenden Gedankenge­genstände für kurz festzuhalten, bevor sie wieder von der Gewalt der Stürme in den Wirbel gerissen werden, und dabei gleichzei­tig das Auge des Hurricans, diese unheimliche Ruhe und Stille inmitten der Turbulenzen, vor dem geistigen Auge zu haben, verzweifelt hoffend, dort, im Auge des Hurrican, unterschlüpfen zu können. Czernins Apho­rismen, allesamt dem Ausforschen von Formen der Sprache verpflichtet, allesamt ent­sprungen einem Kampf gegen die Sprache zugunsten einer Art inneren Wahrnehmung derselben, die nicht zur Sprache gebracht werden kann, sondern die einzig im Scheitern synthetischen Verstehens mecha­nisch kon­stellierter Satzrealisierungen von grammatischen Möglichkei­ten auf­blitzen, Czernins Aphorismen also polarisieren die verstehen wollende Rezeption in zwei Weisen: Man gibt sie auf oder nimmt sie als Aufgabe an. Nimmt man sie an, dann ist der Zwang zu akzeptieren, daß man sich anstellen können muß beim Nachmachen der Gedankenverknüpfun­gen, und der Zwang, diese Vivisektion des eigenen vorhandenen oder bloß unterstellten Intellekts ohne Verzweiflungseinbrüche und ohne Gewöhnungs­effekt durchzuhalten. Czernin macht ernst mit der Vermutung, daß die Erwartbarkeit von Erwartungen des oder der anderen, bisher Ga­rantie für die Übersetzbar­keit an sich überkomplexer Kommuni­kationssyndrome in reduk­tive (Sprech-) Handlungsverläufe, immer mehr dazu ge­nutzt wird, an 'fremder Subjektivität vorbeizukommen', an­statt sich mit ihr zu treffen. Reflexion, seit Hegel die Exi­stenzform des Zuspätkommens (aber Eintreffens von Einheit), ist nun das gewor­den, was sich in das hinein einnistet, was ihr erst noch vorgeworfen resp. vorgesetzt werden soll; und wie es aussieht, läßt sie sich nicht mehr vertreiben. Noch ist man immer noch dabei, gründlich zu entschei­den, ob Reflexion als Gegenstand der Erkenntnis, als Bedingung der Ermögli­chung von Gegenständ­lichkeit des Denkens, oder einfach als nicht re­flexiv denk­bar zu bedenken ist. Franz Josef Czernin scheint mir zur Zeit der fortgeschrittenste Be­richterstatter dieser Selbst­plage zu sein. Es ist fast so, als er­trügen die Sinne es nicht mehr, den Kör­per bei seiner Arbeit zu unter­stützen, die darin besteht, "jene Um­stände zu vernichten, unter wel­chen man ausschließlich für sich selbst erscheinen müs­ste" (Bd.1, No. 1.8.4, p29).

Um klarzumachen, daß er erst gar nicht versucht, die Leser da abzuho­len, wo sie zu verweilen meinen, beginnt Czernin seine Einleitung in die eine Einführung in die Mechanik mit folgenden zwei Sätzen: "Denken heisst, etwas etwas anderem über-, unter- oder auch beiordnen: Ein Aphorismus, der von einem gedacht wird, der als Denkender denkt, wird auch oft von einem gedacht, der sich oder etwas begrenzt; zum Beispiel etwas, das er selbst fühlt, glaubt oder empfindet (das heisst: mit seinen Sinnen wahrnimmt). Was einer als einer, der sich selbst oder etwas erhöht, mit den Sinnen wahrnimmt, das nimmt er vielleicht als einer wahr, der dichtet und etwas für wirklich hält, um es über einen, der an sich oder etwas glaubt, als Zweifelnder zu behaupten, oder als einer, der sich als Vergehender fühlt; wenn einer sich als Dichtender denkt, dann kann er sich als der, der sich selbst teilt (das heisst: über sich als ich nachdenkt) dazu verurteilen, einer zu sein, der et­was nur dunkel fühlt."

Wie kommt's?

Unter der Nummer 2.1.11 im 2.Band (p12) formuliert Czernin erhellend ein gewichtiges Motiv seiner Kartographisierung "reinen" Denkens, eines Denkens, das sich mal als l'art pour l'art, mal als l'art sur l'art, dann wieder als paradoxieverliebt oder als der Alltagserfahrung ver­bunden, in den meisten Sätzen und Fällen jedoch immer erstaunlich zeigt. Dort liest man: "grammatik: wenn man weder eine wissenschaft betreibt, noch das, was man sagt, dazu benützt, etwas mitzuteilen, können sätze zu nichts anderem dienen, als die möglichkeiten der gram­matik vorzuführen." In der Tat kann man sich gut vorstellen, wie Czer­nin zusammen mit Benedikt Ledebur, mit dem Czernin seine "einführung in die mechanik" begonnen hatte und der einige hundert Aphorismen bei­steuerte (ihm ist auch das Opus gewidmet), an irgendeinem Abend vor dem Fernseher gesessen haben, sagen wir MTV seh- und hörend, und plötzlich vom Einfall getroffen worden sind, daß das, was Vi­deo/Computer dem Visuel­len ange­tan hat, nämlich Sprengung der Darstel­lungsbegrenzungen namens Sinn, Thema, Information und also reine Selbstgenügsamkeit an der Ent­faltung von Möglichkeiten, Bilder zu er­zeugen, daß das also doch auch äquiva­lent fürs Kognitive, fürs Men­tale, also fürs Bewußtsein möglich sein müsste, als eine Art MTV für die Abstraktion. Besteht man wie Czernin auf einer Arbeit an und in der Form, versucht man wie er die originären Gesetze der Literatur, der Zwei-Sei­ten-Form der Schrift, der immer noch ungeklärten Verbindung von Denken und Schreiben bzw. Spre­chen als eigenständige zu unterstel­len und sie zu erkunden, und ist dabei überzeugt, daß es zwischen My­thos, Wahrheit und tieferer Bedeutungslo­sigkeit, fragt man nur lange genug nach, keine überzeu­genden Unterschiede mehr gibt, die Unter­schiede ergeben, dann bleibt: Der Wille zur Virtuosität. Virtuosität des Komponierens bleibt übrig, wenn man wie Czernin davon ausgeht, daß die letzte uns verfügbare Sprache, die Umgangssprache, als eine Art Musik aufgefasst werden muß, aus der sich der Komponist davongestohlen hat, und man sein Schreiben und Denken als philosophische Dichtung versteht, die Buchstaben für Begriffe und Begriffe für Vorgänge hält. - Bleibt einem etwas anderes als das übrig, wenn man davon überzeugt ist, daß der Vorgang des Dich­tens heisst, so zu denken, "dass man nicht wissen kann, was man denkt, aber wissen muß, wie man denkt" (Bd.1, No.1.9.8.3, p45)? Wer will, kann in Czernin den poetischen Flü­gel der Theorie der Beobachtung wie­dererkennen, wie sie durch die se­cond order cybernetic (von Foerster, Glanville), die Biophilosophie Maturanas (Varelas, Zelenys) und die Systemtheorie Luhmanns (Fuchs', Baeckers), kurz: durch den radikalen Konstruktivismus benutzt, entfal­tet und erklärt wird (Siegfried J.Schmidt etwa, einer der Promoter des radikalen Konstruktivismus, verwendete Czernins Aphorismen als durch­gehendes Zitatnetz für sein Buch 'Kognitive Autonomie und soziale Ori­entierung'). Wenngleich Czer­nin in einem Wesentlichen von dieser Grundlagenwissenschaft abweicht: Für ihn ist und bleibt sinnliche Wahrnehmung der Ausgangspunkt der Wissenschaft, nicht Selbst- oder Be­obachtungsbeobachtung. Sätze wie die Luhmanns, daß kein informations­verarbeitendes System Information aus der Umwelt zu beziehen vermag, oder daß ausschließlich das System namens Kommunikation zu kommunizie­ren vermag, nicht aber "der Mensch", oder daß schließlich Wahrnehmen und Kommunizieren als zwei operativ vollständig getrennte Systempro­zesse aufzufassen sind, mag Czernin ex­plizit nicht zu teilen, wenn­gleich seine dichterischen "Mitteilungen" implizit von solchen Unter­stellungen Gebrauch zu machen scheinen.

Es ist nun aber ebendiese Virtuosität des Komponierens von Sätzen zu Aphorismen, die Czernin sich selbst ein Bein stellen läßt. Es hat ihm offenbar nicht gereicht, die zuallermeist gewichtigen, niemals 'weder Fisch noch Fleisch' bleibenden, Hirn­lärm oder Hirmalarm beim Lesen verursachenden Aphorismen schlicht für sich stehen und sprechen zu lassen. Vor schwebte ihm wohl, die Kom­plexheit der Relationen von Sät­zen in einem Aphorismus nochmals zu komplexieren qua komplexer, die Modi "als" und "über" benutzender Re­lationierung der Aphorismen mit Haupt- und Nebenkategorien, die wie­derum mit bestimmten tradierten Vo­kabularien, etwa dem Vokabular des erkenntnistheoretischen Idealismus, des Positivismus, des philosophi­schen Skeptizismus usw., in bestimmter Affinität verbunden sind. Czer­nin macht jeden Aphorismus verortbar in­nerhalb eines in sich relation­ablen Kategoriensystems. Dieses beinhal­tet 9 Hauptkategorien, wobei die neunte, "selbst-dichter", die tran­szendentale und also vertikal durch alle Bände gehende, also keinen eigenen Band für sich beanspru­chende Kategorie ausmacht. Die restli­chen heissen in dieser Reihenfolge (oder ist es eine des Ranges?): 1 Selbst-Denker, 2 Selbst-Begrenzer, 3 Selbst-Empfinder, 4 Selbst-Erhö­her, 5 Selbst-Faller, 6 Selbst-Fühler, 7 Selbst-Teiler, 8 Selbst-Gläu­bige. Die Nebenkategorien bestehen aus: 10 Selbst-Dunkler, 11 Selbst-Steller, 12 Selbst-Verbesserer, 13 Selbst-Vergeher, 14 Selbst-Wirkli­cher und 15 Selbst-Zweifler. Daß eine Kategorie namens Selbst-Fremder fehlt, ist nicht auf fahrlässige oder dezidierte Nichtentscheidung rückzuführen, sondern entspringt der Überzeugung, daß Selbstfremdheit wie auch Selbstdichtung eher orthogonal zu den übrigen Kategorien ste­hen, also eher der Ordnung der Bedingungen zur Möglich- oder Unmög­lichkeit angehören denn der Ordnung daraus sich ergebender Manifesta­tionen. Angereichert mit den Modi "als" und "über", die als einfacher Punkt und als Doppelpunkt präsentiert wer­den, bedeutete ein Aphorismus (neben dem, was seine Sätze bedeuten) etwa mit der Nummer 5.1 dies: Hier spricht ein Selbst-Faller als Selbst-Denker den Aphorismus aus. Der zu Beginn schon zitierte Apho­rismus mit der Nummer 1.8:3.1 bedeu­tete also neben seiner Satzbedeu­tung: Hier spricht ein Selbst-Denker als Selbst-Gläubiger über den Selbst-Empfinder als Selbst-Denker. – Es bedürfe manchmal einiger An­strengung, so Czernin in seiner Einleitung, den betreffenden Aphoris­mus so zu denken, daß die Klassifikation tref­fend erscheint. Das ist euphemistisch gesagt und zugleich Ausdruck ei­ner völlig falschen Ge­wichtung der Relationierung von Satzbedeutungen des Aphorismus mit der Bedeutung des Aphorismus innerhalb des Klassi­fikationssystems. Nicht anstrengend ist die Klassifizierung der jewei­ligen Aphorismen mittels der Kategorien, sondern schlichtweg beliebig. Das gibt Czernin auch mit anderen Worten zu: "Da ich mich auf dem Ge­biet der Literatur wähne", so führt er in der Einleitung aus, stehe es ihm frei, einen Standpunkt einzunehmen, der besagt, "dass jene hinter­gründigen Mecha­nismen nur dann bestehen, wenn ich behaupte, dass sie es tun" (Bd.1, p14). Man könnte ihm damit eine Art metareflexive Voll­ständigkeit sei­nes Werkes bescheinigen, wendet er doch schließlich die Werkzeuge zur Erschließung des Möglichkeitsfeldes der Grammatik noch­mals an für die Erschließung der Relationierung realisierter Möglich­keiten im selbst­geschaffenen System von Kategorien. Was dabei aber auf der Strecke bleibt, ist die - darf man sagen - semantische Materiali­tät der ein­zelnen Aphorismen, die nun, als eine Art Stellvertreter oder Repräsen­tant des Begriffs Figur, im Vordergrund stehen einzig deswegen, um dem Hintergrund, repräsentiert durch das Kategoriensy­stem, als Träger sei­ner Gestaltwerdung zu dienen. Czernin geht davon aus, daß all das, was als jeweils einzelnes verstanden werden kann, was als Aphorismus "vorne" an der semantischen, an der formulierbaren Front steht, also den Weg zur Oberfläche und zur Sichtbarkeit finden konnte und kann, Produkt ist einzig des Spiels von uns nicht einsehba­ren Hintergründen, Produkt eines hintergründigen Ineinanderspielens von Mechanismen des Annehmens, des Vokabulars, des Begriffsduktus, der Kultur, des Habitus der Bedeutung. Was er nun macht, ist, in diesen unsichtbaren Hinter­grund hineinzugreifen, dort ein eigenes Hinter­grundsyndrom zu instal­lieren, das Kategoriensystem, und zuzuschauen, wie dieser Mechanismus des Hintergrunds Vordergründe, Figuren, hier also Aphorismen gene­riert. Daß es ihm zuvörderst darum geht, die Klas­sifikation treffend erscheinen zu lassen, also die Funktionstüch­tigkeit seiner konstruier­ten Mechanik, heißt, sollte eine Klassifizie­rung mal nicht überzeugen, den Aphorismus umdenken zu müssen, umzubie­gen, damit.. ja was eigent­lich?; damit offenkundig und plausibel bleibt, wie wenig der Mensch von dem, was sprechen, denken, schreiben, erleben, fühlen usw. heißt, im Griff hat, getreu dem Aphorismus "ich bin das, was so geregelt wird, dass es sich für eine ausnahme hält" (Bd.7, No.7.5.2.1, p18)?

Was bringt die Klassifizierung der Aphorismen außer ein Mehr an unter­komplexer, weil nicht mehr verkleinerbaren Komplexität?

Den Aphorismus "aphorismus: unaufhörlich werden meine eindrücke von meinen vorstellungen zu dingen missbraucht" (Bd.2, p31) nummeriert Czernin zum Beispiel mit 2.3:6; der Aphorismus spricht also von einem Selbst-Be­grenzer als Selbst-Empfinder, der über den Selbst-Fühler spricht. Aber warum spricht dieser Aphorismus nicht von einem Selbst-Empfinder als Selbst-Vergeher, der über einen Selbst-Steller als Selbst-Wirklicher spricht (also 3.13:11.14)? Und warum drückt er nicht aus, daß hier ein Selbst-Denker als Selbst-Zweifler spricht, der als Selbst-Erhöher spricht (also 1.15.4)? Reicht es denn nicht aus, daß allein auf der Satzebene schon Not herrscht zu erklären, warum denn nicht meine Vorstellungen unaufhörlich von meinen Eindrücken zu Dingen mißbraucht werden?; oder werden nicht doch vielmehr die Dinge unauf­hörlich von meinen Eindrüc­ken zu Vorstellungen missbraucht?; können Eindrücke überhaupt miß­braucht werden, und: Was sind Dinge? (Wen es interessiert, der schaue bei Baudrillard nach.) - Zum Glück kann man sich bei allen Aphorismen unter Absehung der Czerninschen Kategori­ensystematik auf die Odyssee des Aussage-Verstehens begeben und dort zu qualmen beginnen vor troc­kener Reibung.

Czernins Elemente, mit denen er komplex wird, sind reich an Zahl und an als Begriffe ausgewiesenen Verben/Substantive ge­bunden: Die Spanne geht von abhängen, Ähnlichkeit, Anfang, annehmen, antworten bis zu zu­sammenfassen, Zusammenhang, zusammensetzen und zustoßen. Beinahe im­mer werden mit ihnen Sätze gebildet, die dem Ver­hältnis zwischen einem Sich zu sich, zwischen einem Sich und seinem Denken, Sprechen und Schreiben (bzw. Schrift), und dem Verhältnis ei­nes reflektierenden Sich zu seiner Reflexion einen anderen Sinn oder ein anderes Problem, eine andere Unmöglichkeit oder eine weitläufige Abhängigkeit abpres­sen. Neben Sätzen, die das eigene Nachdenken in Si­tuationen bringen, in denen man sich eine Ohnmacht wünscht, um vom Alptraum des Nichtverste­hens erlöst zu werden (etwa folgender mit der Nummer 2.1.7.9: "hypothese: wenn man sich dann, wenn man mehr gewinnt als verliert, so teilt, dass das, was einen ergänzt, mehr verliert als gewinnt, dann ist man das, was das, was einen ergänzt, mehr verliert als gewinnt."); neben Sätzen, die, wenn nicht reflektierte, so doch zumindest fahrläs­sige Naivität an den Tag legen (etwa, wenn im Apho­rismus 1.4.2 be­hauptet wird, "die wissenschaft ist jene tätigkeit, die ihre sprache nach den gesetzen dessen zu formen versucht, was sprach­los ist."); und neben immer wieder auftauchenden Sätzen, die einzig da sind, um die Beliebigkeit des Verstehens durch Umstellung der Satz­teile, durch ein­fache Verneinung, durch die Behauptung des Gegen­teils, vorzuführen (kein Satz widerspricht allen anderen versus jeder Satz widerspricht allen anderen): Neben solchen Sätzen also kommen die restlichen Sätze doch überwiegend eher brillant daher und klopfen an den Schädel, bis es wehtut. Oder zu rauschen beginnt. Liest man inner­halb nur weniger Seiten Sätze wie die, daß Möglichkeitssinn bedeutet, die Entscheidun­gen, die man fällt, durch die Weise, in der sie aufein­anderfolgen, zu­rückzunehmen; oder daß Gesellschaft bedeutet, daß jeder Wunsch, der sich durch uns verwirklicht, mich als Angst gerade davor ausdrückt; oder daß das Nichtannehmen, daß, bevor man wahrnimmt, das, was man wahrnimmt, schon existiert, nur heißen kann, seine eigenen Sinnesor­gane zu vergessen; oder, zuletzt die Dichtung betreffend, Sätze wie die, daß es nur so scheint, als ob es Gedanken oder Sätze gäbe, die schwieriger zu verstehen sind als andere: denn alles, was wir verste­hen, setzt uns als ganzes in Bewegung, und was uns an jener Bewegung gegebenenfalls als schwieriger erscheint, ist nur, daß wir mehr von ihr wahrnehmen; liest man also und versucht mitzudenken, dann ereilt einen das Glück, in eine eigene Atmosphäre denkender Sprache zu gera­ten, ohne von ihr, wie etwa bei Heideggers "Sein und Zeit", er­stickt zu werden, um den Preis freilich, nur durch eine (denkende) Empfindung mit all dem um sich herum zusammenzuhängen. Dies zu erzeu­gen ist die großartige Leistung der Sätze Czernins.

Die sogenannte Wiener Gruppe (Oswald Wiener, Gerhard Rühm, Konrad Bayer, Ernst Jandl, H.C.Artmann), die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre mit der sog. experimentellen Poesie (konkrete Poesie) auf sich aufmerksam machte und eine eigene Rezeptionsgeschichte erzeugte, scheint in Franz Josef Czernins Aphorismen zu ihrer zwar späten und vielleicht zu unlustigen, aber dafür wohl wahren Essenz gekommen zu sein.