Glossar einiger Begriffe der

neueren Medientheorie

zusammen mit Dietmar Kamper (†)

 

 

 

Bemerkung: Es geht im Folgenden nicht so sehr um das Definieren, Beschreibungen und Erklärungen bestimmter, medientheoretisch relevanter Begriffe im Geleise der technischen Informatik, der kybernetischen Kommunikationstheorie oder der mittlerweile vorhandenen Selbstbeschreibungsvokabularien einer virtual reality-Diskursgemeinschaft. Die Begriffe werden vielmehr zu fassen gesucht aus einer Soziologie der gesellschaftlichen Veränderungen heraus, wobei die Veränderungen an der vorderen „Front“ der Medien betrachtet werden als avancierte Gestalten einer Restrukturierung der Entkörperlichungs- und Entmaterialisierungsprozesse auf gehobener Stufenleiter. Der Horizont der Formulierungen ist einer der schwindenden, aufgelösten Körperlichkeit. Insofern muß die Aktualität von Jahr zu Jahr überholt werden.

 

Autismus: Ein maßgebend von Eugen Bleuler 1911 in den psychiatrischen Diskurs eingespeister Begriff, der die Selbstschließung erkrankter Menschen vor der Realität und die daraus resultierende Selbstbezogenheit dieser Menschen bezeichnen soll; zusätzliche Syndromkennzeichnung 1943 durch Leo Kanner: Extreme Form des Alleinseins und ängstlich zwanghaftes Bestehen auf Erhaltung der Gleichartigkeit der Umwelt. In anderer Terminologie bezeichnet Autismus die nicht-enttautologisierte Selbstreferenz eines Bewußtseins (Peter Fuchs). – Heute scheint es plausibel, autistische Syndrome nicht mehr als psychische Störung eines Bewußtseins, sondern als Effekt funktionierender Kommunikation anzusehen; die Bedrohung, die Kommunikation für Autisten darstellt, ist ein allgemeines Merkmal des Verhältnisses von Komunikation und Bewußtsein, welches mit der Explosion der Kommunikationsdichte, -frequenz und - angebote mitexplodiert. Der Autismus ist auf die Kommunikation übergegangen.

 

Bild: Was ein Bild ist, bleibt weiterhin ungeklärt. Ob man danach fragt, wie Bilder eine ähnliche Repräsentation eines Orginals liefern, wie sie als zweidimensionale, perspektivische Darstellung einer dreidimensionalen Szene funktionieren, ob Bilder strukturell hologrammatisch sind, ob sie nur als mentale bestehen, ob sie epiphänomenal sind, ob sie überhaupt als Informations-Speicher speicherbar sind (Piktoralismus) oder erst durch Texte rekonstruiert werden (Deskriptionalismus), ob es genetisch tradierte Bildspeicher und eine visuelle Grammatik gibt (Franz Wegener) oder ob Bilder, egal welcher Materialität, welcher Technik und welcher soziologischen Produktionzeit, nichts sehen, wiedererkennen und darstellen lassen denn Wiederholungen (Schöpfungslosigkeit des Bildes): all das bleibt ungeklärt. Fest scheint zu stehen: Daß Bilder die kongeniale Entsprechung einer grundlegenden Blind- und Taubheit des hochgerüsteten zivilisierten Menschen sind; die transparente und dadurch effektiv Intransparenz verunsichtbarende Form des nicht mitteilenden Teilens von Welt (was zweifellos neue Formen der Telesozialität nicht ausschließt). Bilder in einem sozialen und ästhetischen Sinne setzen sich längerfristig immer an die Stelle des Darzustellenden und zerstören längerfristig immer die für ihre Rezeption notwendige Erinnerungs- und Einbildungskraft.

 

Code: Die spezielle Bezeichnung einer speziellen Zuordnung von verschiedenen Kombinationen und verschiedenen Bedeutungen; die Zuordnung muß eindeutig und reversibel sein. Beispiel Computer: Das Material der Datenverarbeitung eines Computers sind einfache Darstellungselemente, die zu Milliarden in der Hardware gespeichert sind. Da mit elektrischen Impulsen „gearbeitet“ wird, gibt es nur die Zustände Strom und kein Strom. Entsprechend ist auch die Darstellung der Zeichen mit Elementen realisiert, die mit nur zwei Ausdrucksmöglichkeiten auskommen (binäre Elemente). Sollen nun mehr als zwei unterschiedliche Bedeutungen ausgedrückt werden, so kann das durch Kombination mehrerer Binärelemente geschehen. Die Zuordnung von Kombination und Bedeutung gewährleistet der Code. Oder Beispiel Sprache: Neben den Merkmalen Artifizialität, Kondensiert- und Konfirmiertheit und symbolmäßige Verwendung von Sprachzeichen ist es die binäre Codierung der Sprache in Ja/Nein-Stellungnahmen, die, so Luhmann, die Muse der Gesellschaft sei. Denn ohne ihre Doppelung aller Zeichen, die Identiäten fixieren, hätte die Evolution keine Gesellschaft bilden können. Codes haben, egal ob biologisch, psychisch oder sozial „gebettet“, durchgehend ein Merkmal gemein: Sie beziehen sich immer auf Relationen resp. Relationierungen von Relationen von Elementen, nie auf die Elemente selbst. Die Frage ist, inwieweit Codes raffinierte Kristallisationen der Geschichte und Entwicklung der durch sie angewiesenen Elementekombinationen sind, oder eher transgeschichtlich anzusetzen sind. – Die Entwicklung innerhalb der Medienkommunikation, nämlich Kommunikationsobjekte zu multicodieren (Jencks), korreliert negativ mit der zunehmend sichtbarer werdenden Härte gesellschaftlicher Codes. Zur Zeit herrscht das wissenschaftliche Phantasma, man könne zumindest den biologischen Code so auf sich anwenden, wie der Computer auf  andere Maschinen angewendet werden kann (Computer als Simulation aller anderen Maschinen; ein Meta-Code als Codierungmaschine aller anderen Codes).

 

Cyberspace: Kunstwortschöpfung aus dem Roman Newromancer des us-amerikanischen SF-Autors William Gibson. Bezeichnet ein virtuelle Landschaft, die nur in den vernetzten Computern der Welt existiert. Gilt inzwischen auch als Synonym fürs Internet. Im Cyberspace wird jede tatsächliche Bewegung des Beobachters (Figur), der über Interfaces an die Prozeduren des Bildauf- und Umbaus verbunden ist, in realtime hintergrundperspektivisch umgesetzt. Die Zentralperspektive emanzipiert sich vom Beobachter und geht zum Teil aufs das Beobachtete (Berechnete) über. Cyberspace ist auch zu fassen als Visualisierung einer grundlegenden Virtualität menschlicher Sozialität; ihre Simulation einer künstlichen, visualisierten Umwelt kommt zum Ziel genau dann, wenn die menschliche Wahrnehmung die simulierte/ virtuelle Welt als reale Wahrnehmung realisiert. Gelungener Cyberspace ist die endgültige Aufgabe des Raumes als Ereignis real werden lassende Dimension und die abstraktifizierte Sublimation des (abendländischen) Berührungsverbots durch das nun mögliche Eindringen in die Bilder selbst.

 

Dissimulation: Bedeutet Verstellung, Verstellungskunst, die Verheimlichung, die Verstellung, die Verbergung; von lat. Dissimulatio: das Unähnlich- oder Unkenntlichmachen, die Verkleidung, die Maskierung, der Schein, die Entähnlichung. Der Begriff komplettiert mit dem der Simulation (Vorspiegelung, Vorschiebung, Vorwand, Ähnlichmachung) den theoretischen „Attraktor“ namens Indifferenz als Eigenwert moderner Gesellschaften (und nicht Kontingenz, wie Luhmann meint). Nach Bernhard Giesen ist die postmoderne Medienkultur beherrscht vom Zwang zur Dissimulation, d.h. Differenzen und Unterscheidungen zu setzen und zu inszenieren, wo es keine Unterschiede und Differenzen mehr gibt. Ist Ununterscheidbarkeit der Höhepunkt moderner Simulation, so die allgegenwärtige Unterscheidbarkeit der der Dissimulation (Differenzphilosophie); Dissimulation als panische Vorhölle der immer stärker durchschlagenden Indifferenz rigider Codes gegenüber ihrer „Bespannung“ mit unterschiedlichen Programmen. Innerhalb eines Bildordnungsmodells von Baudrillard könnte Dissimulation die letzte Ordnung vor dem Zusammenbruch der Ordnung als solche stehen: 1. Das Bild als Reflex tieferliegender Realität (Ordnung des Sakraments), 2. Das Bild als Maske und Denaturierung tieferliegender Realität (Ordnung des Verfluchens), 3. Das Bild als Maske der Abwesenheit tieferliegender Realität (Ordnung der Zauberei), 4. Das Bild als tieferliegende Realität resp. die Realität als Maske des Bildes (Ordnung der Simulation), 5. Das Realität ersetzende Bild als Differenz zur nicht mehr vorhandenen Realität des Unterschieds von Realität und Bild (Ordnung der Dissimulation), 6. Zerfall der Ordnungsformvorgaben Bild, Realität und Ordnung.

 

Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten: Läßt man davon ab, Zeit linear und das Raumzeitkontinuum als weiterhin kontinuierend zu denken, und geht dagegen von einem Bruch desselben aus, dann lassen sich mindestens zwei Verfahren des Umgangs der Menschen mit Zeit ausmachen, die nicht auf die Erinnerung zurückgeführt werden können, obwohl sie sie vorausetzen: Wiederholen und Durcharbeiten. Um ein Ereignis, das geschah, sich aneignen zu können, reicht es nicht mehr aus, sich daran zu erinnern. Mit der Frühromantik in Europa brach das Kontinuum des griechisch bestimmten europäischen Bewußtseins, das von Aletheia und Anamnesis lebte, zusammen. Es war Søren Kierkegaard, der als erster von der ‚Wiederholung’ als der entscheidenden Kategorie der Zeit in der Moderne sprach. Nicht mehr Kontemplation, die Ausgedehntes erinnert, sondern ein rasantes antwortendes Leiden und Tun, das in dem Anspruch des ‚Nocheinmal’ gipfelt, sollte einen Ausweg weisen. Das Ereignis muß wiederholt werden, damit es wirklich wird. Doch schon Kierkegaard verfehlte die Kategorie. Aus der wirklichen Wiederholung wurde ein seltsamer Wiederholungszwang auf die Bildfläche. Die dramatische Vergegenwärtigung sich ereignender Urszenen, verstanden als eine Praxis des Heiligen, ist damit in der Schrumpfform zwanghafter Wiederholung auch als eine Katastrophe des Heiligen zu deuten. Wahrscheinlich gehört die Inszenierung von Ereignissen zu einer Strategie der Rehabilitierung des Dramas der Erinnerung. Hier setzt das Durcharbeiten an, das die scheiternde Wiederholung dennoch retten soll. Es geht gegen die Schmerzlust und gegen den Todestrieb, die in solchem Scheitern am Werk sind. Die falschen Vorzeichen betreffen das persistierende Unvermögen der Gegenwart, das sich auch jetzt als wachsende Leere der Zeit, als immer neuer „horror vacui“ manifestiert. Wo sich keine Figuration mehr ergibt, wo aus Zeitmangel kein bestimmendes Bild mehr zustande kommt, verfehlt die Wiederholung ihr Ziel mit Zwangsläufigkeit. Ein Hauptmotor dieses Leerlaufs könnte das von jeder Phantasietätigkeit gereinigte Gedächnis sein, das nur noch Schrift ist, pure Buchstäblichkeit. Ein anderer Hauptmotor ist jene Phantasie, die keine Zeit mehr hat, Narbe zu werden, weil sie unkörperlich, d.h. maschinisiert, wurde. Wo beide kurzgeschlossen werden, da entsteht der Computer, von dem man erwartet, daß er zu einer rigorosen Zeitentlastung beiträgt. – Folie und Vehikel des gestaffelten Abstraktionsprozesses ist eine Technolgie der Körperextension, die nicht allein eine Prolongation der Gliedmaßen betreibt, sondern auch eine Expropriation der inneren Organe, insbesondere des Gehirns, nach außen. Es ist diese Externalisierung der menschlichen Symbolfunktion, die in Allianz mit einer Inkorporation der Zeit in der Maschine Richtung und Ziel der Fiktionalisierung der Welt im nachhinein lesbar macht. Dabei geht es um den Wunschtraum einer technischen Überwindung körperlicher Gebrechen: Schmerz, Krankheit, Tod, und zwar einerseits durch Abschirmung der Individuen, andererseits durch Medien, die einem Automatismus der unaufhaltsamen Entwicklung überantwortet werden. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr technologie noch immer Theologie ist.

Fiktion: Erfindung, Ausgedachtes, focus imaginarius, der sich reflexiv selbst markiert als nichtreal wenngleich wirkwirklich. Baudrillard (aus: Amerika, München 1987, p136, auf den Unterschied zwischen us- amerikanischer und europäischer Kultur zu sprechen kommend): „Die Fiktion ist nicht das Imaginäre. Sie nimmt das Imaginäre vorweg, indem sie es realisiert. Sie ist unserer Bewegung genau entgegengesetzt, die darin besteht, die Realität in der Imagination vorwegzunehmen oder in der Idealisierung vor ihr zu flüchten. Deshalb werden wir [Europäer; B.T.] uns nie in der wirklichen Fiktion bewegen. Wir sind dem Imaginären und der Sehnsucht nach der Zukunft verfallen. Der amerikanische Lebenstil ist spontan fiktional, weil er die Übersteigerung des Imaginären in der Realität ist.“ Die Gleichsetzung eines Wirklichen mit einem Unwirklichen ist das Wesen der Fiktion. Je weniger Fiktion als Fiktion eingesetzt wird, desto schwieriger wird die Unterscheidung von fiktionaler und nichtfiktionaler Realität; je perfekter die bildliche Umsetzung fiktionaler Realität passiert und die nichtfiktionale Realität verstärkt über technisch vermittelte Bilder/ Texte/ Töne wahrgenommen wird, desto zwingender wird Wissen für die Aufrechterhaltung des Unterschieds von Fiktion und Realität.

 

Futur, das perfekte: Es ist sehr früh bemerkt worden, daß die Vergangenheit über die Gegenwart dominiert immer dann, wenn das Tote an ihr überwiegt. Wo der Zeitbezug neurotisch, wo der Wiederholungszwang zum alleinigen Muster der Realitätsbewältigung wird, hat die Menschheit ihre Zukunft schon hinter sich. Die Wiederholung in der Mannigfaltigkeit ihrer Formen wird zur Geisterbeschwörung, strenggenommen sogar zu einem Totenkult in der härtesten Bedeutung des Wortes, mit dem Effekt der Auslöschung jeglicher Differenz von Innen und Außen. In dieser größten Not greifen die Menschen zu einer verrückten Notlösung: Sie setzen auf Entlastung durch die Maschine. Sie selbst halten die erforderliche Geschwindigkeit der Zeitrotation nicht mehr aus; sie nehmen Zuflucht bei einem Mittel, das die Ausgangsprobleme wahrscheinlich noch einmal intensiviert. Die neue Medientechnologie der beschleunigten Bewegungen stellt den verzweifelten Versuch dar, dem Wiederholungszwang zuvorzukommen, und zwar durch ein techno-mimetisches Konzept. Der Computer, als Rechenmaschine eine Zeitmaschine, ermöglicht genau solche Bewegungsabläufe, wie eine Zwangsneurose sie vorschreibt: Rückkoppeln der Resultate in den laufenden Prozeß; Bewegung nicht im geschlossenen Kreisverkehr, sondern im 'offenen' Umlauf, aber zum Zwecke des Schlusses; Herstellung eines selbstreferentiellen Systems unter Einsatz der Selbstreferenz als Verhängnis; Automatisierung der Abläufe um jeden Preis, auch um den des Autismus des Betreibers. – Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte hat die Menschheit die Möglichkeit, sich selbst von den Wurzeln, Herkünften und Ursprüngen ihres Lebens radikal abzuschneiden und damit ein Reich jenseits von Notwendigkeit und Freiheit zu gründen, in dem der Tod unbeschränkter Meister ist. Wahrscheinlich wird diese Möglichkeit genutzt, wohl in Gestalt einer panischen Problemlösung. Um etwas vermeintlich Schlimmeres zu vermeiden, wird die Grenze überschritten, die noch das Identifizieren des Unmenschlichen zuließ. Was in der Bilderflut sich bereits angekündigt hat, die mit Leere verdeckte Leere, könnte sich zu einer haltlosen Immanenz des Imaginären aufblähen, von der schließlich kein Zeugnis mehr abgelegt werden kann. Das öffnet einer völlig neuen Art des Nicht-Seins Tür und Tor im ‚Haus des Seins’. Wurde der Tod bisher nur im ersten Futur erwartet, so rückt er jetzt ins zweite Futur vor. Hatte sich die vergangene Geschichte zur Not noch in die Kondition pressen lassen, daß sie gewesen sein wird, so entfällt sogar dieser Trost. Auch gewesen sein wird sie nicht, weil für menschen von nun an kein Gedächnis und keine Phantasie mehr hinreichen, um die passierende Selbstvernichtung in irgendeiner adäquaten Erzählung zu fassen. Das Drama der Erinnerung hat an diesem Nichtsein im zweiten Futur sein black out, sein endgültiges Scherbengericht. Und doch: Die metonymische Verschiebung, die in der Technologie der Zeitmaschinen anfängt, läßt einen Ausweg offen. Könnte es nicht sein, daß ein imaginärer Tod die Herrschaft des Blicks beendet und damit die Macht des Wahns, man könne gegen das Leben auf der Erde einen Krieg gewinnen? Könnte es nicht sein, daß im Äußersten des toten Raumes die Umkehrformel gefunden werden kann, die der fast gestorbenen Zeit dann doch ihre Schrecken nimmt? Könnte es nicht sein, daß der veräußerte Wiederholungszwang und die deponierte Zwangsneurose den Menschen die Zeit lassen, endlich durchzuarbeiten?

 

Illusion: (lat. in ludo = im Spiel) Bedeutet oberflächlich Täuschung, vor allem Selbsttäuschung; im tieferen Wortsinn jedoch „aufs Spiel setzen“. Wer sein Leben aufs Spiel setzt, mag sich auch selbst betrügen; der Zusammenhang ist unvermeidlich, aber es geht um eine andere Lebensart, die sich vom common sense der lebenslänglichen Versicherung fernhält. – a) Illusion kann verstanden werden als Grundlage der Praxis des Unterscheidens.  Das Wort selbst hatte eine Karriere, die verdächtig einseitig einer marginalen Bedeutung den ersten Rang gibt: der Täuschung, der Selbsttäuschung. Damit ist es jedoch in die Abhängigkeit von einem Wahrheitsdiskurs geraten, unter Ausschaltung seines tieferen Sinns, der jenseits von Wahrheit und Wahrhaftigkeit liegt. Illusion als Tun und Leiden derer, die aufs Spiel gesetzt werden, entstammt dem Wortfeld der Gefahr und gründet sich auf das Risiko als anthropolgische Kategorie. Wegen der fehlenden menschlichen Natur bedurfte es seit jeher der Zusatzanstrengungen, um den „Fehl“ zu kompensieren. Aber die Institutionen, diese kulturellen Substitute der Natur, sind von zwei Seiten bedroht, der Ordnung und der Unordnung. Die Illusion der Gefahr ist dann notwendig, wenn die doppelte Bedrohung überhand nimmt. Dann sind Spiele zur Erfindung neuer Regeln erforderlich, die auf möglichst viel Risiko eingehen und das Nichtkalkulierbare zulassen können. Damit betritt man allerdings eine andere Welt, nämlich die der Zauberei, mit ihren Künsten, die das Erscheinen und das Verschwinden betreffen. Diese Welt ist fundamental, nicht exzentrisch. Aber sie gleicht der natura naturans, nicht der natura naturata. Eine magische Matrix kommt ins Spiel, die nach dem Muster notwendiger Fiktionen arbeitet, als schöpferische Erfindung dort, wo nichts mehr zu finden ist. Während die Illusion in der Welt der abstrakten, automatischen Verhältnisse nur noch als Simulation zu haben ist, heißt sie in der Welt der Körper Mimesis. Darüber, was das eine, was das andere ist, weiß man auch heute noch sehr wenig; noch weniger darüber, wie Mimesis Simulation fundiert und wie Simulation Mimesis substituiert. Man müßte die Ablösung der Körper, ihre Entzauberung durch die Maschinen, genetisch und strukturell präziser beschreiben können, um hier weiterzukommen. Sie scheinen die letzte Gewahrwerdung eines Unterschieds zu garantieren, der sich aufzulösen beginnt und gefasst werden kann wie folgt: Ab einem bestimmten Punkt macht es keinen Unterschied mehr, ob man sich daran gewöhnt, so zu tun, als ob man glaube, oder ob man sich darn gewöhnt, wirklich zu glauben: Der Schied zwischen beiden Modi erweist sich nur noch in einer Gestalt, die die Illusion als Illusion zu zeigen vermag; und das vermag, wie es aussieht, der menschliche Körper des körperliche Menschen. Bewußte Selbsttäuschung: Wer das Leben des im Zivilisationsprozeß erstarrten Menschen als große Illusion, die eine Melancholie der leeren Zeit überwindet, zu lesen versteht, muß das Muster der strikten Ambivalenz zur Anwendung bringen. Es gibt derzeit kein hinlängliches Kriterium, das Positive und Negative der Kultur gegeneinander abzugrenzen. Die Mimesis als Vermögen der Einbildungskraft fließt ineins mit der Simulation als dem Vermögen der täuschend-ähnlichen Reproduktion. Das liegt am Kurzschluß von Archaik und Technik, der sich von seiten des Körpers mit der Zeitbemächtigung einer großangelegten Chronokratie eingestellt hat. Aus diesem Kurzschluß eine Strategie zu destillieren hieße, gewollte Selbsttäuschung zu praktizieren. Man täuscht (nicht sich selbst, sondern) das importierte Selbst, um den Bann der leeren Zeit zu brechen. Das geht wahrscheinlich auch mit Maschinen. Wichtig ist nur, das die Spur der Illusion nicht verlassen wird, welche die notwendigen Fiktionen der Bühne und die Gesetzmässigkeiten des grundlegenden Szenarios im Theater der Welt als Möglichkeiten des Lebens zu wahren erlaubt. Die große Illusion wäre also groß, wenn der Wortsinn streng zweideutig gehalten werden könnte. Sie beschreibt den imaginären Ort, an dem der Mensch der Gegenwart sich aufs Spiel gesetzt und in ein unaufhebbares Risiko verwickelt weiß. Sie ist weder eine Angelegenheit der Realität noch eine der Symbolik, weder Materie noch Immaterie, weder körperlich noch sprachlich, sondern ein Bildschirm, der nichts zeigt, der aber als Drehscheibe für das Begehren den Kreis von der archaischen Mimesis zur postmodernen Simulation zu schlagen erlaubt. – b) Eine Illusion findet statt, wenn etwas anderes erscheint, als es ist. Die Illusion unterscheidet sich von der Halluzination, die überhaupt keinen Bezugsgegenstand hat. Findet die Illusion in der Wahrnehmung statt, so spricht man von einer Sinnestäuschung. Kennzeichnend für eine Illusion ist es, daß man sie durch die Tatsache, daß man sie als solche erkennt, nicht beheben kann. Die Möglichkeit der Illusion wird in der Erkenntnistheorie benutzt, um die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Realität zu begründen. Darauf stützt sich das Argument, wonach uns nicht die Sachen selbst, sondern nur Erscheinungen gegeben sind. Das Argument der Illusion spielt bei der Begründung des Skeptizismus eine große Rolle. Menschliches Erkennen ist ein biologisches Phänomen, das nicht durch die Objekte der Aussenwelt, sondern durch die Struktur des Organismus determiniert ist. Menschen haben ein operational und funktional geschlossenes Nervensystem, das nicht zwischen internen und externen Stimuli differenziert und daher sind Wahrnehmung und Illusion, d. h. innerer und äusserer Reiz, im Prinzip für den Menschen nicht unterscheidbar. Menschliche Erkenntnis resultiert aus individuellen Erfahrungen und ist als Leistung des Organismus grundsätzlich subjektgebunden und damit unübertragbar. Der Gehalt kommunizierter Erkenntnisse richtet sich nach der biologischen Struktur des Adressaten, aber Adressat und Kommunizierender sind keine biologischen Phänomene, sondern soziologische. Diese irreduzible Verschiedenheit verankert die Wirklichkeit des Illusionären in den „Weltkontakt“ des sprechenden und arbeitenden, sich verhaltenden Menschen.

 

Imagination: (lat. imaginatio für gr. phantasia) Auf deutsch Einbildungskraft; ein von der Vernunft und dem Verstand unterschiedenes Erkenntnisvermögen, fähig der Bilder und der Schemata von grundlegender Bedeutung. Imagination hat hauptsächlich drei Aufgaben: Sie fungiert als transzendentaler Unterstrom des Bewußtseins, zweitens als Vermögen der Vorstellung auch abwesender Dinge, und drittens als mit Angst einhergehendes Verhältnis der Menschen zu ihrem Körper. – Dennoch: Imagination ist ein nur sehr schwer von der Vorstellung, der Phantasie, der Antizipation und der Einbildungskraft abzugrenzender Begriff; im Thesaurus synonym gesetzt mit Einbildung, Einbildungskraft, Fiktion, Utopie, Phantasie und Unwirklichkeit. Vor allen anderen Differenzierungen scheint die zwischen visualisierter und nicht nichtvisualisierter Imagination einen triftigen Unterschied in der Bestimmung auszumachen: Läßt die nur imaginierte Imagination noch die Erfahrung eines Bruchs zwischen der Ereignishaftigkeit von Erfahrung und der Erfahrung von Imagination zu, wobei gar eine Ordonanz sich einstellt (Letzttableau der Realität bleibt die ausgebildete Wirklichkeit, zu der hin die eingebildete Wirklichkeit sich vermittelt), so kehrt sich in der visualisierten Imagination das Verhältnis mindestens um (wenn sich nicht das Verhältnis als solches zerstört und reines Selbstverhältnis wird): ein Bruch ist auch weiterhin erfahrbar zwischen Erfahrung und Einbildung, nun allerdings als unspezifischere Diskrepanz zwischen der Erfahrunglosigkeit des Im-Bilde-Seins (bei gleichzeitiger hoher Ereignishaftigkeit) und der Erfahrung der Ereignislosigkeit des Nicht-im-Bilde-Seins (bei gleichzeitiger hoher Erfahrung von Schmerz, Ungenügen und Nervosität). Die Nicht-Bild-Erfahrung wird zum in Kauf zu nehmenden Appendix einer noch nicht totalen Bildimmanenz. In der Perfektion der Bilder, verglichen mit der weiterhin weitgehend drei- und vierdimensionalen Wirklichkeit, kommt die von Anders aufgestellte These des prometheischen Gefälles in Reinform zum Ausdruck.

 

Indifferenz: Gilt oft als Nebenprodukt funktionaler Vergesellschaftung. „Fördernde Leistungen können intensiviert werden“, so Luhmann mit Blick auf Funktionssysteme, „ohne daß jedes Ereignis alle Teile anginge und alles mit allem abgestimmt werden müßte“ (Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd.1, Opladen 1970, p123). Damit geht einher eine „erhebliche Beschleunigung systeminterner Anpassungsprozesse, ein überlebenskritischer Zeitgewinn“ (ebenda). Es ist so von einer legitimen Indifferenz der Teilsysteme gegeneinander die Rede. Störende Umwelteinwirkungen können in Teilsystemen abgekapselt werden. Auch die Transformation von Problemen aus der Außenwelt ins Innere der jeweiligen Systeme vereinfacht Probleme und ermöglicht ihr sequentialisiertes Kleinarbeiten. Der Blick auf die multizentrische Gesellschaft existiert nicht anders als standortgebunden, aus der Perspektive eines jeweiligen Systems, ohne daß die verschiedenen Perspektiven sich zu einer Totale zusammensetzen ließen. Vom Standpunkt der Theorie funktionaler Differenzierung und aus dem sich mit ihr verbindenden Perspektivismus ergibt sich eine Kritik an der Vorstellung einer Gesellschaftsgestaltung, insofern sie die Repräsentation der Gesellschaft im Zentrum oder an der Spitze einer Hierarchie voraussetzt. – Die Gleichgültigkeit der mit Codes ausgestatteten Systeme gegenüber dem animale sociale bricht sich invers Bahn mittels einer Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber massenvermittelter Kommunikation, die damit ihr ordnungspolitisches Ziel erfüllt.

 

Information: Der Begriff ist in der gegenwärtigen wiss. Semantik der Selbstbeschreibungen von Gesellschaften innerhalb der Triade Materie, Energie und eben Information der bevorzugte („Informationsgesellschaft“); dementsprechend verschiedenen sind die Beschreibungen seiner Aspekte. Neben den Unterscheidungen in genetische, biologische, elektrische usw. Information gilt die interne Dimensionierung des Begriff in syntaktische, semantische und pragmatische Aspekte. Die syntaktische Informationstheorie Shannons gilt trotz ihrer Eindimensionalität (Nachrichtenübertragungstheorie) immer noch als passende Erklärung von Information. Andere Auffassungen, die Semantik und Pragmatik berücksichtigen, nehmen jedoch zu (Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht; Information ist nur das, was verstanden werden kann; „all objects conveying information are irreducible to the terms of physics and chemistry“; M. Polanyi). Hauptproblem der KI-Forschung zur Zeit ist die technische, vielleicht gar logische Unmöglichkeit, Kontexte und explizit implizit sein müssendes Wissen in Information zu überführen. Information selbst läßt sich nicht mehr informieren. – Zur Zeit scheint Information sich als praktikable positive Antwort auf den Ekel am Kommunikativen (Adorno) durchzusetzen, d.h. als Kontrollinstrument für eine umspannende Beschränkung des semantischen Begreifens auf das Faß- und Handhabbare, auf das zeitoptimierte know-how, auf die griffige Formel, auf das von jeglichen transzendierendem Ballast befreite begriffslose Weiterreichen entkontextualisierter Wissenspartikel. Der Begriff Information hat mittlerweile schon seine eigene Bewertungsunterscheidung generiert: Overnewsed, but underinformed.

 

Komunikation: von lat. communicare = vereinigen. Der Begriff Kommunikation wird in einer Vielzahl von Definitionen verwendet, die sich z.T. mit anderen Begriffen wie Reaktion, Interaktion oder Verhalten überschneiden oder mit diesen sogar gleichgesetzt werden. Um den Begriff der interaktiven Kommunikation (Interaktion) als Teilbereich der Kommunikation definieren zu können, erscheint es sinnvoll, von einer äußerst weit gefaßten Definition auszugehen. So soll interpersonale Kommunikation zunächst Beziehungen der Kommunizierenden benennen, bei denen über Sprache, Zeichen oder Symbole Informationen ausgetauscht oder vermittelt werden, Kommunikation also verstanden als habitualisierter oder reflektierter Austausch von Gesten, Zeichen, Informationen und deren Interpretation. Kommunikation verläuft in der gängigen Fassung prozeßhaft über mindestens drei Stationen: 1. Sender = Verschlüsselung (Encodierung), 2. Nachricht = Übermittlung (Signalisierung), 3. Empfänger = Entschlüsselung (Decodierung oder Interpretation). Entscheidend für das Zustandekommen von Kommunikation ist die (zumindest teilweise) Identität des für die Aussage benötigten Zeichenvorrats des Senders mit demjenigen des Empfängers. Kommunikation ist nur durch Zeichengebrauch möglich und damit an Zeichen gebunden. Sie ist gleichzeitig die auffälligste Form des Zeichengebrauchs. Kommunikation hat drei Hauptfunktionen: a) Mitteilungsfunktion (Mitteilen von Gedanken), b) Beziehungsfunktion (Regelung der Beziehungen zu anderen), c) Handlungsfunktion (Koordination von Handlungen mit anderen). Kommunikation ist, so scheint es zumindest, nicht dazu da, daß sich verschiedene Menschen besser verstehen, Aufgaben besser koordinieren und Weltsachverhalte besser mitteilen können. Kommunikation scheint generell Welt nicht mitzuteilen, sondern nur einzuteilen; auch bezieht sich das Verstehen als drittes Glied des Begriffs (Information und Mitteilung) nicht mehr auf eine den Kommunizierenden gemeinsam zugrundeliegende Identität, sondern gilt immer mehr als nicht mehr einwandfrei funktionierende Verunsichtbarung eines Mißverständnisses. Audiovisuelle Medien koppeln weitgehend die Komponente des Verstehens von ihren Offerten ab und habitualisieren damit eine bestimmte Form der Einstellung zum Kommunizieren, die, je weniger sie zu teilen vermag, umso mehr mitteilt (das Verschwinden der Information in die Mitteilung, die selbst kein Objekt des Teilens mehr besitzt). Massenkommunikation oder auch mediengebundene Kommunikation wurde bisher definiert als jene Form indirekter zwischenmenschlicher Verständigung, die an ein prinzipiell unbegrenztes, anonymes, heterogenes und räumlich-zeitlich verstreutes (disperses) Publikum gerichtet ist, die überwiegend einseitig vom Kommunikator zum Rezipienten (Leser, Hörer, Zuschauer, Nutzer) verläuft und wegen der hohen ökonomisch-technischen Voraussetzungen bisher typischerweise in arbeitsteiligen Großorganisationen (Rundfunkanstalten, Verlagen, Medienkonzernen usw.) produziert wird. Inwieweit diese Definitionen nach der weiteren Verbreitung von computergestützten Medien, einer möglicherweise daraus resultierenden Gleichstellung von Kommunikator und Rezipient sowie abnehmenden technischen und finanziellen Voraussetzungen einer Überarbeitung bedürfen, bleibt abzuwarten. Die Massenmedien können also allgemein verstanden werden als technische und organisatorische Infrastruktur der Massenkommunikation. Telekommunikation: Ein Sammelbegriff für alle Formen von Kommunikation mit Hilfe nachrichtentechnischer Übertragungsverfahren. Dabei kann es sich sowohl um Mensch-Maschine-Mensch-, als auch um Mensch-Maschine- oder Maschine-Maschine-Kommunikation handeln. Nach der benötigten Übertragungskapazität unterscheidet man zwischen schmalbandigen (z.B. Fernsprechen, Fernschreiben, Bildschirmtext) und breitbandigen (z.B. Datenübertragung, Fernsehkonferenz, Bildfernsprecher) Diensten sowie nach einseitig gerichteter und zweiseitiger Kommunikation. Die wichtigsten Formen sind: Sprach-, Text-, Bild- und Datenkommunikation. – „Die Komunikation führt die soziale Form durch Banalisierung der Schnittstelle (Interface) zur Gleichgültigkeit (Indifferenz). Daher gibt es in der Kommunikation keine Utopie. Die Utopie einer Kommunikationsgesellschaft hat keinen Sinn, da sich die Kommunikation gerade aus der Unfähigkeit einer Gesellschaft ergibt, über sich hinauszugehen und anderen Zielen zuzustreben“ (Jean Baudrillard).

 

Körper: lat. corpus, im Sinne des toten Herrenleibs verstanden, später Leiche, kann um keinen Preis als natürlich oder ursprünglich angenommen werden, vielmehr muß er als lebendig-wirksames ‚Resultat’ der Evolution, der Vorgeschichte und der Geschichte in Rechnung gestellt werden. Zivilisationstheoretisch ist der menschliche Körper als ‚stummer Diener’ mächtig gewesen, als durchaus nicht passiver Angriffspunkt für Unterdrückungen und Zurichtungen, welch letztere zumeist in der Maskerade der Emanzipation daherkamen. Nach der einen Seite ist der Körper sterblich, vergänglich und verwesend, nach der anderen Seite ist er als Geschlecht bestimmt, im doppelten Sinne von gender und sex. Er ist produktiv und reproduktiv, er zeugt und empfängt, er handelt und leidet, unter der Prämisse, daß er selbst zugrunde gehen muß. Erst eine solche Prämisse hält Anschluß an die Geschichte der menschlichen Souveränität; alles andere beschleunigt lediglich die Diziplinargesellschaft, die im panoptischen Zustand das zerstört, was sie zu beherrschen vorgibt. Am Körper kann eine spezifische Leidensgeschichte nachgelesen werden, die eine Folie der Geschichte des europäischen Nihilismus abgibt, also jener geistigen Grundrichtung, die beim kleingeschriebenen „nicht“ endet. – Tod und Sex gelten noch immer als die beiden fundamentalen Schwächen des Körpers und sind mit Urängsten besetzt. Um beiden historisch Genüge zu tun, gab es eine einzige zivilisatorische Strategie: Transformation des (vergänglichen) Körpers ins (ewige) Bild. Diese auf Verdrängung und Vergessen basierende Form des Selbstumgangs war früher wenigen Menschen vorbehalten, ist seit einigen Jahrzehnten jedoch jedem prinzipiell zugänglich. Von daher hat sich Entscheidendes gedreht: Die Differenz von körperlicher Realität und Abbild entfällt. Es gibt nur noch Bilder vom Körper, und diese haben eine Tendenz in die Ewigkeit. Bilder sind Denkmäler gewesenen Lebens. Mit einem Wort: Sie sind tot. Erst in der Dimension des zerstückelten Körpers gäbe es Leben, mit dem man etwas anfangen kann. Deshalb bleibt für eine historische Anthropologie des Körpers die Kategorie des Schmerzes unabdingbar. Allerdings ist ein irritierendes Ereignis zu verzeichnen: Während vor Jahren noch von einem partout schweigenden Körper die Rede sein konnte, ist nun scheinbar die Zeit seiner Wiederkehr da. Es mehren sich zumindest verschiedenartige Strategien, die den Körper praktisch und theoretisch in Anspruch nehmen und auf seine „Sprache“, auf sein „Bild“ reflektieren. Fest steht, das folgende Überzeugungen, nämlich: daß unser Wissen dar­über, daß wir ein materieller Körper sind, wie all un­ser Wissen, von der Existenz dieses materiellen Körpers und seiner spezifi­schen Orga­nisationsform abhängt; hingegen sind wir durchaus nicht der Überzeu­gung, daß die Existenz dieses oder einen ande­ren materiellen Körpers davon abhängt, daß wir wissen, daß sie existie­ren – daß diese Überzeugungen also gegenwärtig ins Rutschen kommen. Könnte es sein, daß die Verkörperung von Wissen, als die die so­zio-kulturelle, also wissen­schaftlich-technologische Zvilisationierung vordringlich be­tracht werden kann, den materiellen Körpern, die in dieser Zivilisa­tionierung hau­sen, ih­ren Gewißheits- und Überzeugungsbonus für Exi­stenz entrissen haben? So daß, umgedreht oder vielleicht auf einer hö­heren Emergenzstufe, die Exi­stenz ma­terieller Körper abhängig zu wer­den beginnt von einer spezifischen Organi­sationsform des Wissens? – Wie dem auch sei: Fällig ist mehr denn je eine nicht-reaktionäre Kritik der Moderne, eine Umkehr nicht zu historischen Zuständen, sondern zu geschichtlichen Kräften. In Anbetracht, wie unbekannt der Körper weiterhin ist, ist zu vermuten, daß diese geschichtlichen Kräfte in geschichtsmannigfaltigen Körpern aufzufinden ist.

 

Mimesis, körperliche (und technische Simulation): Simulation ist unter Bedingungen einer produzierten Welt dasselbe wie Mimesis unter den Bedingungen der Produktion dieser Welt. Simulation will eine gegebene Welt ersetzen, Mimesis schafft eine Realität sui generis. Sie ist das Vermögen der Ahmung, d.h. der menschlichen Maßgabe (von Ohm = Maß), die in einem zeitlichen Prozeß der Rückkopplung Ausdruck und Verkörperung aufeinander bezieht und dabei Leben vor-spielt. Insofern Körper durch Maschinen ersetzt werden, gibt es keine Mimesis mehr, ist Mimesis in Simulation aufgegangen. Das, was beide in der Zwischenzeit verbindet, ist eine illusionäre Erzeugung von Wirklichkeit. Mimesis und Simulation kommen in Illusion überein. Das, was sie trennt, ist der Unterschied von Körpern und Maschinen. Diese Differenz liegt in der Zeit. Das Verhältnis ist asymmetrisch. Zwar sind Maschinen Rituale, aber Rituale sind keine Maschinen. – Das Wort Mimesis (gr.) bezeichnet ein Vermögen, mittels einer körperlichen Geste eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Es heißt nicht Nachahmung, sondern Vorahmung, während Simulation (lat.) das technische Herstellen von Bildern meint, die einer Realität täuschend ähnlich sehen. Simulation ist ein nachahmendes Verfahren, eine List des Überlebens. Wenngleich weiterhin keine triftige Unterscheidung zwischen M. und S. gegeben ist, kann man doch feststellen, daß M. auf Differenz hinausläuft, S. auf Identität. Körperliche Mimesis kann verstanden werden als ein Restbestand archaischer Möglichkeiten, der es erlaubt, Täuschung als Täuschung zu diskriminieren. Simulation will hingegen eine künstliche Doublette herstellen, die sich nicht unterscheiden soll vom Orginal. Je weniger „Eigenpräsenz“ des Abbilds als Abbild, desto besser die Simulation. Daraus folgt, daß sie umso besser funktioniert, je weniger sie weiß, was sie tut. Simulation verläuft in Automation. Sie ist wesentlich technisch organisiert und gehört dem sekundären Unbewußten an, das insgesamt Kultur heißt. Mimesis hingegen gehört zur Kunst, die das Ähnliche als Ähnliches setzt, die Fiktion als Fiktion betreibt und die Illusion als Illusion inszeniert. Simulation qua Nachahmung betrifft die natura naturata, Mimesis qua Vorahmung arbeitet nach dem Muster der natura naturans. Simulation ist mit Räumen konfrontiert, Mimesis vollzieht sich in der Zeit: darin liegt die Hoffnung, daß ein Rückweg vom Bild zur Sprache, ein Rückweg vom Raum zur Zeit, die ihn öffnet, möglich bleibt, sei es um den Preis des weitesten Bogens, den die menschlichen Körper in der Zeit zurücklegen können.

 

Mitteilung: Neben den Begriffen Information und Verstehen die dritte Komponente einer vollständigen Erfassung des Kommunikationsbegriffs; noch Garantie dafür, daß „Zeichenaustausch“ eine soziale Veranstaltung ist, d.h. durch die strukturelle Ozillation zwischen der Mitteilung der Information und der Information der Mitteilung eine kommunikative Einheit potentiell unabschließbar macht. Je weniger die Sozialdimension des Mitteilens als informierende Komponente der Kommunikation gilt, desto maßgebender wird die Sachdimension der Information für die Aufrechterhaltung der Kommunikation; bis hin zum Kollaps resp. zum Ekel vorm Kommunizieren (Adorno). – In der Mitteilung allein kann das Unvorhergesehene, das nicht schon Informierte, das sich in der Gegenwärtigkeit Ergebende passieren; ein Eindruck wird nicht hergestellt, daß, wenn mitgeteilt wird, nichts hergestellt wird, sondern etwas wiedergebenen (das ist abstrakte Kommunikation), sondern vielmehr wird mitgeteilt, daß das, was mitgeteilt wird, im Mitteilen hergestellt wird. Massenmedienvermittelte Kommunikation reduziert systematisch das Mitteilen und damit die Kommunikation in ihrer performativen, ereignis- und zeitsensitiven Gestalt.

 

Multimedia: Digitale Integration unterschiedlichster Medien in ein Gerät oder auf ein Trägermedium, wobei der Benutzer auf die einzelnen Medien wahlfrei zugreifen kann. Unterschieden wird additives und integratives Multimedia.

 

Programme: (gr.-lat.: schriftliche Bekanntmachung; Tagesordnung) Programme gelten als inhaltliche Vorgaben für codegeführte Operationen physikalischer, biologischer, psychischer und sozialer Systeme/ Organisationen/ Maschinen. Sie dienen der Zuweisung sinnhafter Ereignisse zu positiven Codewerten (etwa: Gesetze des Rechts, Theorien/ Methoden der Wissenschaft, Budgets der Wirtschaft, Unterhaltung/ Information/ Werbung der Massenmedien. Je stabiler, invarianter und rigider ein System-Code, desto pluraler die komplementär zum Code einsetzbaren Programme. Massenmediale Programme haben nichts von einer in die Zukunft weisenden Programmatik, sondern sind umgekehrt Kasernierungsformen, die zukünftige Gegenwarten zeitlich in der gegenwärtigen Gegenwart festmachen.

 

reality fiktion: Fiktionalisierung der Wirklichkeit; meint den Tatbestand, daß Medien nicht mehr nur auf Wirklichkeit reagieren oder Wirklichkeit reportieren, sondern selbst Wirklichkeit schaffen in dem Maße, wie sie nicht mehr nur ein Mittel in der Gesellschaft sind, um über Gesellschaft zu kommunizieren, sondern selbst Gesellschaft werden (Beispiele: Entwicklungen in einer Fernseh-Serie werden zu Nachrichten der ersten Seite von Zeitungen; RTL-Werbung für die eigenen Nachrichtensendungen: zielgruppenspezifische Ansprache nicht mehr des ‚Bürgers’, sondern des spezifizierbaren Fernsehn-Konsumenten).

 

realtime: Eine Form der Datenverarbeitung, bei der die Ergebnisse eines Verarbeitungsauftrages innerhalb sehr enger zeitlicher Grenzen (Milli-Sekunden) verfügbar sein müssen. Es besteht eine grundlegende Unvereinbarkeit zwischen Echtzeit und der symbolischen Regel des Tausches. Letzteres funktioniert nur durch indirekte Interaktion. Es ist gerade die Zeit, welche die zwei symbolischen Momente voneinander trennt und ihre Auflösung verzögert. Echtzeit-Kommunikation scheint die langersehnte Realisation des Denkens zu sein, vollständig materialisiert durch die unaufhörliche Interaktion aller Virtualitäten in Analyse, Synthese und Berechnung. Echtzeit ist die technologisch sich materialisierende reelle Subsumption des ungewissen Sich-Ereignens unter die Gegenwart des Schon-Passierten.

 

Referenz: Meint, daß das Zeichen in seinem Aufbau verschiedene Beziehungen einschliesst, die sich in drei disjunkte Mengen einteilen lassen: 1. Beziehungen zu anderen Zeichen, die den strukturellen Aufbau des Zeichens ausmachen, 2. Beziehungen zu Objekten, die die Referenzen von Zeichen zu Dingen der Aussenwelt festlegen, und 3. Beziehungen zu Subjekten respektive Interpretierern, worin die kommunikative Wirkung des Zeichens zum Ausdruck kommt. Diese drei Beziehungsarten vertreten je eine der drei Dimensionen, die dem Zeichen innewohnen, nämlich die syntaktische, die semantische und die pragmatische Dimension. Diese drei Dimensionen werden oft in kanonischer Weise miteinander verbunden gesehen, so daß keine von den anderen beiden abgeleitet werden kann, aber erst alle drei zusammen eine Semiose ermöglichen und damit das Zeichen als solches ausmachen.

Schnittstelle: Gilt in der Datenverarbeitung als Bezeichnung für eine Stelle, an der zwei Anlageteile zusammengeschaltet sind und deren genormter technischer Aufbau die Übertragung von Daten zwischen diesen Teilen ermöglicht, z.B. zwischen der Zentraleinheit und den Peripheriegeräten oder zwischen Techenwerk und Arbeitsspeicher eines Computers. Schnittstelle meint also eher Verknüpfungs- und Anschlußstelle. – Im Wortsinne dagegen meint Schnittstelle die Hypothese der Auffindbarkeit von Schnitten, Wunden, Narben am menschlichen Körper, die als Indizien dafür gelten können, daß das Eskamotieren des menschlichen Körpers in und mittels abstraktifizierter Gesellschaften nicht spur- und reibungslos passiert; der zugerichtete Körper als nichteliminierter „Ort“ der Erinnerung an und der Rekonstruktion der immensen Kosten der abendländischen Geschichte, deren Teleonomie die radikale erinnerungslose Befreiung von jeglicher deixisabhängigen, verletz- und sterblichen Körperlichkeit sein könnte.

 

Simulation: Der Begriff Simulation wird nach der VDI-Richtlinie 3633 folgendermaßen definiert. „Simulation ist das Nachbilden eines Systems mit seinen dynamischen Prozessen in einem experimentierfähigen Modell, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die auf die Wirklichkeit übertragbar sind.“ Folgende Simulationstechnologien besitzen für produzierende Unternehmen und Engineering-Dienstleister die größte Bedeutung: Ablaufsimulation, Grafische 3D-Simulation, FEM-Simulation und Mehrkörpersimulation. Ziel der Abbildung eines realen Sachverhalts mittels einer mathematischen Theorie ist die Entwicklung eines möglichst einfachen, innerhalb abgesteckter Grenzen gültigen Modells. Es gibt kein perfektes Modell in dem Sinne, daß sämtliche Parameter des realen Systems Berücksichtigung finden. Das Experimentieren mit einem Modell heißt Simulation. – Nach Baudrillard dissimuliert sich die nichttechnisch verstandene Simulation abstrakter Gesellschaften mittels des Einsatzes von Realität. Nach einer historischen ‚Eskalation’ simulativer Praxen entlang der Vortäuschung, Ersetzung, Auflösung und Löschung von Realität wird diese zu einer mit sich identischen Realität realer Simulation; die Unterscheidungkraft von Unterscheidungen geht verloren. Nicht das ein Politiker lügt, ist das Problem im Zeitalter der Simulation, sondern das er glaubt, was er sagt, wenn er lügt, und daß das Gesagte das einzige ist, was für ihn zählt, und daß er weiß, daß es schließlich außerhalb der machtgestützen Sage überhaupt nichts anderes gibt. Die Baudrillardsche Mühe manifestierte sich in einer angestrebten Subversion. Nicht mehr Kritik am Falschen (mit dem Festhalten an der Differenz von Wahrheit und Lüge), sondern Übertreibung der Alternativlosigkeit, eine Strategie des Scheins sollte die Lösung des Banns bewirken. Auch der Schein hat kein Gegenteil, wie die Simulation auf den Stufen zwei und drei (siehe weiter oben unter Dissimulation). Aber die artifizielle Herstellung von Fiktionen, von Imaginationen, von Schein als Schein kommt zu spät. Die politische Wirklichkeit ist in der Selbstdemaskierung immer schon besser als jede Absicht. Ein bestimmter Punkt ist im Zeitalter der Simulation kollektiv überschritten: Niemand kann mehr definitiv unterscheiden, ob eine Lüge eine Lüge ist, ob ein Ereignis wirklich stattgefunden hat ode nicht, ob eine Nachricht erfunden oder zutreffend ist, ob die individuellen Produktivkräfte des Menschen: Glaube, Liebe, Hoffnung, Einbildungen darstellen oder wahr sind. Auch der Wahn ist produktiv, nicht nur die Macht. Die einzige Chance in diesem Zusammenhang besteht in dem Aufspüren der Gesetzmässigkeiten der Simulation, die einen offenbar harten Duktus angenommen hat. Die Wirklichkeit der Bilder, noch vor einigen Jahrzehnten als Antidot gegen die unaufhaltsame Entfernung der Menschen gepriesen, führt heute einen Tod im Schilde. Das schrankenlose Imaginäre verzehrt alle Bindungen und stellt sich nach und nach als Todeszone heraus, als selbstgemachtes hyperkomplexes Labyrinth. Deshalb ist es unzureichend, die Simulation lediglich deskriptiv oder logisch zu analysieren, wie Friedrich Kittler es neuerdings unternimmt. Er bringt sie in den Zusammenhang einer binären Codierung der Welt: Affirmation heißt Bejahen, was ist. Negation heißt verneinen, was nicht ist. Simulation ist dagegen über Kreuz geschaltet: Sie bejaht, was nicht ist, und eröffnet so enen Freiraum. Vergessen wird dabei, daß die Simulation die Bilder braucht und daß an allen Bildern Sterbegeschichten haften. Simulation heißt, so betrachtet, Rückzug in eine neue Innerlichkeit; sie ist Mischeffekt aus Verunsicherung und Sicherheitsstreben. Dummheit als eine der labyrinthischen Verwirrung entgegengesetzte, beschränkte Sicht der Dinge geht gewissermaßen auf ‚Nummer Sicher’. Komplexitätsreduktion, soziologisch und politologisch als das Nonplusultra systemadäquaten Verhaltens propagiert, ist selbst Ursache einer Kette unendlicher Komplexionen. Simulation als Lösungsansatz für komplexe Probleme steigert unentwegt die Komplexität der Reduktionen und die Dummheit der Dummheit.

 

Software: Etwas, was es nach Friedrich Kittler nicht gibt. Gängig werden unter Software Programme von Computern oder Computersystemen verstanden, die unabhängig von der Hardware die Eigenschaften und Funktionen eines Computers bestimmen. Mithilfe von Software (System- und Anwendersoftware) kann jeder Computer zu einer virtuellen Maschine werden, d.h. Computer A kann Computer B simulieren (dessen Eigenschaften nachahmen); heutzutage werden auf Computern auch sog. neuronale Netze simuliert, deren Hauptmerkmal es ist, ohne Software zu funktionieren.

 

Telematik: Die Möglichkeit elektronischer Nachrichtenübertragung hängt wesentlich davon ab, daß Sende- und Empfangsvorgänge in den Geräten mit der Übertragungs- und Vermittlungstechnik abgestimmt sind. Dies wurde durch die Verbindung der Datenverarbeitungstechnik (Mikroelektronik) oder Informatik mit der Nachrichtentechnik (Telekommunikation) möglich. Telematik ist ein Kunstwort aus Telekommunikation und Informatik. (Ebenso aus franz. Telecommunication und Automatique: Wenn Endgeräte aufgrund vorher gegebener Steuerbefehle den Sende- und Empfangsvorgang selbständig ausführen und wenn in der Vermittlungstelle die Verbindungen automatisch hergestellt werden; automatische Nachrichtenübertragung). Telematik ist der eigentliche Oppositionsbegriff zur menschlichen Kommunikation.

 

Virtualität: Der Begriff Virtualität verdankt sich dem lateinischen Begriff vis (Kraft, Energie, Inhalt, Bedeutung, bedeutet aber auch: Gewalttat, Vergewaltigung, Bedrängnis). Der Oberbegriff des Gewaltopfers heißt immer Lebewesen. Mit vis ist das Wort vir verwandt (Mann, Werwolf, Soldat, Liebhaber, Held); daraus wiederum leiten sich ab virtus (Tatkraft, Tugend) und virgo (Jungfrau). Die Virtualität ist zwar keine Junggesellenmaschinerie mehr, aber sie führt wie in einem Exzeß des Bourgois deren Tradition fort (siehe auch die durch maschinelle Virtualität ermöglichte Produktion von Computerviren). Entrückt sich die vis mit der technologischen Realisierung der „verkehrten Welt“ (Marx) bürgerlicher Tagträume in den virtuellen Raum und betreibt dabei ein Grufti-Spiel der verbrannten Erde? Virtualität ist keine neue Eigenschaft der elektronischen Vergesellschaftung, wenngleich sie hier die anschaulichste Gestalt anzunehmen scheint. Sie beginnt schon da, wo alter eine Erfahrung Egos (etwa der Verknüpfung von Eigenschaften verschiedener Materialien) übernehmen kann, ohne selbst die Erfahrung machen zu müssen. Von Seiten der Religionsgeschichte steht die Figur des körperlosen Engels resp. die Figur des unter seiner Körperlichkeit leidenden Anachoreten fürs Virtuelle. Virtuelle Körperlichkeit, im Sinne eines Körpers, der in den immateriellen Welten des Cyberspace beheimatet ist, scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Denn die Materie des Körpers, sein Fleisch und Blut liegt quer zu den a-stofflichen Welten der Bits und Bytes. Dennoch begegnet man auf den Streifzügen durch die Netzwelten oder beim Blick in die computersimulierten, dreidimensionalen virtuellen Realitäten ‚Körperfragmenten’. Diese werden nicht aufgrund materieller Qualitäten als solche wahrgenommen, sondern in erster Linie weil sie funktionale sowie hauptsächlich soziale Aspekte des „realen“ Körpers im Cyberspace reproduzieren. Neben der Bewegungs- und Raumfunktionalität, die auch in virtuellen Umwelten Orientierung, Navigation und Interaktion erst ermöglicht, konstituiert sich virtuelle Körperlichkeit durch die Sprache des Körpers, seine Eigenschaft als Signifikant sowie als Grundlage von Werten und Normen. Es sind dies vor allem Aspekte sozialer Körperlichkeit, die auch in den immateriellen Welten des Cyberspace existieren und letztlich virtuelle Körperlichkeit aus der Taufe heben. Durch die Differenz eines materiellen und immateriellen Körpers wird in der Folge ein Potential der Infragestellung unseres bisherigen Verständnisses des Körpers eröffnet.

 

Wahrnehmung: Ästhetische Wahrnehmung heißt zweimal dasselbe: aisthesis, war-nemen. Das meint das Spüren in der Doppelspur des Anderen und der Zeit. Das meint zugleich eine Offenheit für das Fremde und ein Angewiesensein auf ein nicht-definierbares Außen. Das Thema wird virulent erst im zwanzigsten Jahrhundert und entstammt einer Gegenbewegung gegen die Vergeistigung. Das Denken – so heißt es – erschöpft sich nicht in einer endlos ewigen Selbstbezüglichkeit des Begriffs, sondern bleibt lebendig durch das Viele und das Vielfältige der materiellen Dinge. Die Richtung, die die Wahrnehmung nimmt, ist allerdings unabsehbar. In einer weitgehend abstrakt gewordenen Welt geht es wahrnehmend um Ausbruch, mindestens ums Brechen der geschlossenen Horizonte einer geistigen Immanenz. Deshalb ist Wahrnehmung nicht im Sinne einer Aufrechnung der noch existierenden lebensweltlich bedeutsamen Wahrnehmungsfähigkeiten zu behandeln, sondern in der Form einer „Kriegsberichterstattung“. Wahrnehmung, die auch in Betracht ihrer selbst ausschlaggebend ist, hat die Struktur eines Chiasmas; sie wurzelt in Endlichkeit; sie verfährt zutiefst leidenschaftlich (und also a-logisch) und sie bleibt diskontinuierlich. In den Versuchen, sie im Gegenlauf zur simplen Definition auf komplexe Weise darzustellen, fällt immer wieder das Bestreben auf, eine Problemstruktur zu beschreiben, an der das herkömmliche Denken scheitert. Die begleitende Annahme jedoch, daß ein Scheitern der Theorie der Wahrnehmung aufhilft, ist nicht zwingend. Sie ist lediglich der Ausleger eines anderen Spiels, wie es am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts den sensiblen Zeitgenossen vorschwebt, um die Angst vor der Angst zu verlieren. Das Spiel heißt: die Vollendung des ehemals universalen Denkens in einem Autismus des Geistes zu hintertreiben. – Wahrnehmung, obwohl doppelt pointiert: passiv und aktiv, soll entgegen der seit Kant üblichen Übertreibung des Konstruktiven, Spontanen, Aktiven in der Beherrschung dessen, was es gibt, als Leidenschaft, als Leiden an der überwältigenden Welt, ausgewiesen werden. Dabei wird der Wortsinn in Anspruch genommen, der eine doppelte Bedeutung festhält, nämlich Achtgeben und Achtung haben, Gefahren blitzschnell begreifen können und der Verehrung fähig sein. Damit strukturiert die Wahrnehmung eine der fundamentalen Außenbeziehungen der Menschen, wie etwa die Einbildungskraft eine fundamentale Innenbeziehung des Menschen darstellt. Trotz aller Willfährigkeit im Horizont der Annahme eines durchgehenden Konstruktivismus ist Wahrnehmung, besonders ästhetische Wahrnehmung, nicht konstruktiv zu vereinnahmen, sondern enthält ein in der Hauptsache sperriges Moment, das die Angewiesenheit, möglicherweise das Ausgeliefertsein der menschlichen Sinne ausmacht. Wahrnehmung, aisthesis, ist das Andere des Bewußtseins. Insofern wird viel darauf ankommen, die Differenz beider so klar wie möglich herauszustellen. Es gibt bewußte und unbewußte Wahrnehmung, und es ist der unbewußte Anteil, der sich zu einer Bedrohung des Bewußtseins für den Fall seiner Abgeschlossenheit auswachsen kann. Wahrnehmung ist keine im engeren Sinne geistige Tätigkeit, sondern eine Passion des Körpers. Sie rührt an den Schmerz und funktioniert umso besser, je näher sie sich am Leiden situiert. Doch ist dies kein Einwand gegen eine Grundfassung der Wahrnehmung als Leidenschaft. Wahrnehmung, aisthesis, ist eine Art KörperDenken, das sich des Anderen und der Zeit bedürftig weiß. Es ist einerseits Parteinahme für das Materielle der Dinge, andererseits Tribut an die Sterblichkeit. Diese Doppelfunktion, nämlich radikal-materiell-körperlich und radikal-historisch-zeitlich zu sein, öffnet ein weites Feld für Belege. Das geht von der überwältigenden visionären Erfahrung bis zur Meditation von Bildern und Kunst, von der Neusituierung fundamentaler Metaphern im Bereich der Literatur bis zur alltäglichen Schockerfahrung. Ein Rückgang zu den transzendentalen Bedingungen des lebendigen Anderen ist erforderlich, um jene von Hegel prophezeite Selbstbefriedigung des Geistes in einer leeren Wiederholung bloßer Schemata hintergehen zu können. Allerdings gerät man auch so in das ‚Herzzerreißende der Dinge’. Die Fähigkeit der Wahrnehmung, sich selbst zu achten und das Außen als Gefahr wahrnehmen zu können, ist derzeit mit einer umgekehrten Situation konfrontiert. Die Gefahr kommt von innen, daß Außen ist aller Verehrung wert. Einerseits eine Selbstverschließung im Imaginären, andererseits ein Zusammenbruch aller Brücken zum Anderen, bietet die aktuelle Situation eine Herausforderung, die mit Denken und Handeln allein nicht mehr bestanden werden kann. Erst die Wahrnehmung des kategorial gekreuzigten Selbst würde es ermöglichen, vom Kreuz des Denkens herabzusteigen und sich denkend auch endlich am Leben zu beteiligen. Erst die Entdeckung des Monströswerdens des Geistes sichert dem Körper – und damit dem Außen – eine Chance der Aufmerksamkeit, eine Aufmerksamkeit, die in der Rezeption massenmedialer Zeichen (Bilder, Texte, Anzeichen) nicht mehr erreicht zu werden vermag, zumindest solange nicht, wie Zeichen nicht als Dinge behandelt werden.

 

Wiederholung:  Grundart der zeitlichen Bewegung, in der Umläufe diverser Rhythmen nach identischem Muster verzeichnet werden können; faßt engere (tägliche, wöchentliche etc.) und weitere Zeitspannen (jährliche, jahrhundertelange etc.) zusammen und ist der Beschleunigung und der Verlangsamung fähig. Wiederholungen können auch im Leerlauf geschehen (Repetition) oder erfüllt sein (Renovation). – Wäre irgendeine Wiederholung vollständig, so könnte sie niemals mehr zu Ende gehen; wenn nichts wiederholbar wäre, könnte nichts verstanden werden. Massenmedien, die über eine mediensystemspezifische Formierung der Information prozessieren (exponentieller Verbrauch von Informationen), ozillieren gegenwärtig immer heftiger zwischen dem Drang, sich vollständig zu wiederholen (expliziter Selbstbezug des Mediums in den durch sie transportierten Botschaften; das, was bei McLuhan noch als Implikat galt, nämlich: „Das Medium ist die Botschaft“, wird nun praktisch und operationabel) und damit in einer nicht mehr hermeneutisch aufschließbaren Hermetik zu landen, und andererseits dem Drang,  in einen Verbreitungsüberschlag von Informationen einzugehen, der sich immer weiter von Verstehen ablöst. – Enzensbergers Rat, hier die Bedingungen zur Ermöglichung einer westlichen Meditationspraxis zu orten, scheint zu optimistisch angesetzt.

 

Zeit: (gehört im Sinne von Abgeteiltes, Abschnitt zu der idg. Wurzel dā[i] „teilen; zerschneiden; zerreißen“; auch wahrscheinlich enge Verbindungen zu den Worten Zeile und Ziel.) Wie kommt man weg von der These, daß das Dasein in seiner äußersten ‚Seinsmöglichkeit’' die Zeit selbst ist?; wie von der anderen These, daß erst Zukünftigsein Zeit gibt, Gegenwart ausbildet und Vergangen­heit im Wie ihres Gelebtseins wiederholen läßt?; und wie von der Grundannahme, daß das Grundphä­nomen der Zeit Zukunft ist? Was passiert mit dem Selbst als Anschlußgarantie ans Dasein, wenn das An­sichtigwerden der unheimlichen Zeit nicht mehr dadurch verdrängt wer­den kann, indem man Zeit in die schlechte Gegenwart des Alltags wirft (Heidegger) und also keine Zeit hat? Was passiert, wenn die schlechte Gegenwart des Alltags in die Unheimlichkeit der Zeit geworfen wird? Und endlich: Was passiert, wenn man davon ausgeht, daß nicht nur alle Ökonomie sich auflöst in eine Ökonomie der Zeit (so der be­kannte Satz aus Marxens Grundrisse), sondern auch alle auf Identität hin ausge­richtete Reflexion? Auf diese Probleme lassen sich immer noch die Formen des massenmedialen Zeitumgangs und -verbrauchs rückbeziehen. Massen- und mittlerweile auch Individualmedien haben ein sehr zwiespältiges Verhältnis zur Zeit: Sie müssen zeitgleich Zeit vernichten und leere Zeit füllen. Sie bedienen sich dafür jedoch der einfachsten Zeitform, der chronologischen, für die kodexhafte Zeitformate zur Verfügung gestellt werden, an denen sich spezielle Inhalte beinahe sklavenhaft zu binden haben. Die fehlende Ereignishaftigkeit des Erfahrens von Medieninhalten, die durch eine immer perfektere Bildhaftigkeit von Ereignissen substituiert wird und sukzessiv als fehlende unerinnerbar gemacht werden soll, wird zudem kompensiert durch technische Inszenierungen von Zeitgleichzeitigkeit (online, live-Sendungen) sowie durch die willkürliche Verfügbarkeit von Medienzeit durch den Konsumenten (Speicherung). Erfahrene Zeit, die struktuell immer unmöglicher wird, mutiert zu einer durchfahrenen, also beschleunigten Zeit. – Die Auswirkungen auf die individuellen und gesellschaftlichen Dosierungsverhältnisse von Erinnerung, Vergessen und (Geistes-) Gegenwart sind durch die Homogenisierung der noch diversen Zeiten von Erfahrungsformen nicht abzusehen und bedürfen wohl der nächsten Generationen.