„Marginal Man“.

Dietmar Kamper als Denker jenseits von Differenz und Indifferenz

Bernd Ternes

 

 

„In den Marginalien wimmelt es, im Zentrum aber ist es tot. Es ist töter als tot. Am tötesten. Eine solche Entdeckung läßt sich nur verschmerzen, wenn man darauf verzichtet, den Unterschied von Leben und Tod zu treffen. Sonst bleibt der Schmerz. Und die Wut“

Dietmar Kamper[1]

 

Hermetik ist als Wissen der Sterblichkeit parteilich für den Körper im körperlichen Austausch, für die Materie im materiellen Widerstand, für den Stoff, der seiner restlosen Formalisierung entgegensteht und entgeht. Sie manifestiert sich in Chiasma-Sätzen

Dietmar Kamper[2]

 

 

Um direkt und – hoffentlich nachvollziehbar – kurz auf den für manche interessantesten Punkt, das Verhältnis Dietmar Kampers zu Eugen Rosenstock-Huessy, zu kommen, möchte ich zu Beginn auch schon die Ausführungen darüber schließen. In einem Brief vom 20. Januar 2001 (der Adressat ist mir bekannt) schreibt Dietmar Kamper, inmitten seiner Erkrankung, dies über und zu Rosenstock-Huessy:

„Ich habe mich abgewandt, früher manchmal probeweise, jetzt ziemlich endgültig. Er war, er ist, er wird sein: niederschmetternd. Was nicht bedeutet, daß er mich kalt läßt. [...] Ich will kein Buch über Ihn veröffentlichen. Ich schicke einige Papiere mit, damit vielleicht besser verständlich ist, warum ich neuerdings der lebenslänglichen Verehrung einen Unterschied vorziehe, der sich nach Krankheit und Genesung auseinanderlegt, ohne schlüssig zu sein. In seinem Schatten angekommen, muß ich sagen, daß ERH zur Krankheit gehört und nicht zur Genesung.“[3]

 

 

I Modernität

Auf einer der ersten Seiten von Paragrana, der internationalen Zeitschrift für Historische Anthropologie, die Dietmar Kamper mitgründete und mitherausgab, steht geschrieben, warum die Zeitschrift so heißt, wie sie heißt. Paragrana stehe sowohl für die Abkehr von der Frage nach dem Kern von Geschichte, Leben und Mensch – „um an begangenen Wegen vorbei eine Richtung zu finden, die nach rückwärts zu mehr Klarheit führt“, müsse man es mit randständigen Kernchen, also mit kleinen Gedankenkörnchen versuchen. Paragrana steht aber auch für ein Denken des Pharmakons ein, abgeleitet von Paracelsus. Ging dieser doch davon aus, daß „wiederholter Zusatz eines solchen Körnchens Gedanken und Aussagen verfälscht, wie zuviel Einnahme die Arznei zum Gift verdirbt“, und deswegen entschied, daß para, das griechische Wort für „neben“, mit granum zu verschmelzen sei, „um aufzuweisen, wie eine Substanz beschaffen ist, die nur richtig gebraucht werden kann. So überschrieb Paracelsus seine grundsätzlichste Rechtfertigungsschrift: ‚Das Buch Paragranum’“.[4]

Die folgenden Sätze möchten nicht zu einem möglichen Kern des Kamperschen Denkens vordringen, sondern in randständiger Art und Weise Kampers Denkbewegungen beschreiben. Vor allem Denkbewegungen der letzten sechs Jahre, die sich in einer unvergleichlichen Radikalität folgender antihegelianischen Diagnose und nietzscheanischen Aufforderung verpflichtet fühlten:

 

„Man kann aber den Horizont nicht übersteigen. An der Grenze muß man verharren. Und dann in den Abgrund der geöffneten Grenze hinabsteigen. Stürzen, nach allen Seiten, auch nach oben.“[5] – Gewiß ist diese Nietzsche-Paraphrase ihrerseits eine Paraphrase auf Hölderlins ‚Daß er lerne die Freiheit aufzubrechen, wohin er will’.[6] Gewiß ist auch, daß Kamper auf, nicht an der Grenze sich bewegte, auf der Grenze des Denkens von Leben und Tod.

 

2001 erschien Kampers letzte Monographie, Horizontwechsel.[7] Mit diesem Buch hat er, so ist sein mit den Worten „Dritte Eröffnung“ übertiteltes Einleitungskapitel zu verstehen, das Sich-Öffnen der Grenze erlebt, ist er in den Abgrund hinabgestiegen, „zum Nullpunkt der Geschichte“, der ein „Dreh- und Angelpunkt“ ist. Er hat den Horizontwechsel vom encore zum en corps, also von der iterativen und permutativen Schließung hin zu einer Körperöffentlichkeit des Denkens, vollzogen, und dabei das dialektisch ausgebrannte und leergemachte Verhältnis zwischen ‚Überwindung des Nihilismus’ und ‚Nihilismus der Überwindung’ verlassen. Er ist damit auf eine, auf seine Grenze des Denkens und Lebens gestoßen – die Mauer des Unmöglichen, wie er es nannte, der unmögliche Austausch. Und er ist, wie sonst nur noch wenige Denker neben ihm (Nietzsche, Bataille, Lacan), auf dieser Grenze geblieben, unermüdlich, ohne Rücksicht, beinahe wie unter Zwang der Aufgabe verpflichtet, „sein eigenes Verschwinden zu zeigen“, das Nichtwissen darzustellen, im KörperDenken Spuren von Versöhnung ausfindig zu machen, der Lethe Freundschaft abzutrotzen.[8] Dietmar Kamper ist das geworden, was er wohl schon immer denkend war: Ein in den unsicheren Bereich zwischen zwei Entscheidungsmöglichkeiten Fallender[9], also: marginal, und ineins damit ein die Reflexion in dritter Potenz einübender Denker.

Kamper war darin, so meine These, zutiefst modern. Allerdings in einem weitläufigeren Sinne, als es der Ausdruck „Marginal Man“ – ein Ausdruck der Intellektualität klassischer Moderne – implizierte. Denn Kampers Marginalität war zugleich auch paradoxal und minoritär, war der Versuch, Bewußtsein, Wahrnehmung und Traum als gebrochen Verkettetes zu denken – denn es sei nötig, so Kamper, Seite und Kehrseite von Existenz, Wissen und Gegenstand zugleich wahrzunehmen und zu träumen, um ihnen noch begegnen zu können. Dies eine Haltung, sogar eine normativ gesetzte, die weit über die im übrigen neuartigen Grenzen der Moderne hinausgeht. Kamper nahm die Moderne in ihrer inneren Bewegung wahr und ernst wie sonst kaum ein Denker neben ihm. Denn er versuchte die Auflösung der Bedingungen des Experiments Moderne im Vollzug selbst nicht mehr in einer Dialektik theoretisch einzuholen, sondern sie in offenen, unverbundenen Enden gedanklich nachzuvollziehen: und zwar unter dem intellektuell extrem anforderungsreichen Vorsatz, für die Auflösungen von Kohärenzen, Identitäten und Bildern kein Bild, keine Identität, keinen Begriff mehr zur Verfügung zu stellen[10] – denn für das Enden der Bilder gibt es kein Bild. Dies denkend auszuhalten gelingt Theorie nur, wenn sie weiterhin unter größten Mühen bestrebt ist, ästhetisch zu werden.[11] Darin folgte Kamper Adorno, wiederum wie kaum ein anderer zeitgenössischer Theoretiker.

 

II Marginalität

Der Ausdruck „Marginal Man“ stammt von dem Stadtsoziologen und Mitbegründer der Chicagoer Schule, Robert E. Park.[12] Er sollte zum Ausdruck bringen, daß sowohl das Leben in der modernen Großstadt wie auch die Konfiguration einer modernen Subjektivität nicht mehr bestimmt werden können in einer auf Geschlossenheit, auf Notwendigkeit, auf Einheit, Integration und sogar auf Bestimmbarkeit beruhenden Denkungsart. Das Tun und Lassen, das Verhalten und Handeln, das Denken und Wahrnehmen der Menschen lasse sich nicht mehr ausmachen durch die relativ klare Bestimmung der Menschen in Raum, Zeit und Sozialität, nicht mehr durch analytische Differenzierung resp. Diskrimination, in nuce: durch Grenzziehungen. Vielmehr ist der Mensch der Großstadt und der Moderne (sich) selbst Grenze, (sich) selbst Naht- resp. Schnittstelle, (sich) selbst Differentes geworden. Er sitzt auf der Grenze, er ist die Mark, die Schnittstelle durchläuft ihn in Gänze – psychologisch, soziologisch, humanökologisch. Er ist das von sich selbst Getrennte und zugleich das daraus entspringende Bewußtsein geworden, nicht mehr angeben zu können, von was er getrennt wurde – für Kamper ein Indikator dafür, daß der Körper des modernen Menschen durch symbolische Maschinen vernichtet wurde und das Symbolische kurz davor steht, vom Imaginären gelöscht zu werden. Vom crucified zum marginal man – das wäre die Kurzform einer Beschreibung, die zum Ausdruck bringen soll, daß Kamper das Kreuzen mit dem Kreuz, nicht des Kreuzes als Aufgabe seines Denkens verstand, gleichsam im Wissen, daß die rationale Moderne mit ihrer maßgebenden Kreuzkreuzigung, dem Unterscheiden („mark with a cross“) durch Signifizierung, der Faszination des Kreuzes bisher kaum standhalten konnte. D.h.: Auch die Moderne versuchte, das Kreuz zu bewohnen, also den toten Raum ineins zu schaffen und zu bewohnen – wie immer erfolglos und mörderisch dies zu bewerkstelligen war. Und doch, so Kamper, besteht die Möglichkeit, vom Kreuzweg weg und weiter zu gehen, daneben zu gehen, exzentrisch zu werden.[13]

Diese Möglichkeit hat – am Vorabend des Faschismus – Helmuth Plessner philosophisch-anthropologisch[14] im Begriff der exzentrischen Positionalität auf den Punkt zu bringen versucht.

Nach Plessner verläuft die Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen über ganz bestimmte Modi des In-Beziehung-Setzens und -Stehens mit „Allem“ (Plessner), nämlich über indirekte Direktheit und vermittelte Unmittelbarkeit. Beide stellen nach Plessner „keine Sinnlosigkeit, keinen einfach an sich zugrunde gehenden Widerspruch dar, sondern einen Widerspruch, der sich selbst auflöst, ohne dabei zu Null zu werden, einen Widerspruch, der sinnvoll bleibt, auch wenn ihm die analytische Logik nicht folgen kann.“[15] Der Radius dieser Aussagen bezieht sich nun nach Plessner auf „das Lebendige“; man muß jetzt natürlich noch untersuchen, was diese Beziehungsmodus-Struktur für die einzelnen positionalen Stufen bedeutet. Plessner fährt fort mit der Frage: „Man überlege sich aber, was es positional, unter dem Aspekt des Lebewesens gesehen bedeutet, daß zwischen ihm und dem Umfeld eine durch es selber vermittelte Beziehung existiert. Diese Beziehung kann dem Lebewesen gar nicht anders als direkt, als unmittelbar erscheinen, weil es »sich selber« noch verborgen ist. Es steht im Punkte der Vermittlung und bildet sie. Um von ihr etwas zu merken, müßte es daneben stehen, ohne doch seine vermittelnde Zentralität zu verlieren. Wie angegeben, ist diese exzentrische Position im Menschen verwirklicht. [...] Daraus scheint mit zwingender Notwendigkeit der Schluß zu folgen, daß der Mensch als exzentrisches Lebewesen in zwei grund-verschiedenen Beziehungen zur Außenwelt, zur Fremdwelt überhaupt steht, einer direkten »und« einer indirekten Beziehung. Dieser Schluß aber ist falsch. Er hat eine entscheidende Prämisse vergessen, nämlich die Identität desjenigen, der in diesem Zentrum der Vermittlung steht.“[16]

Parks Marginal Man als grundlegende Bestimmung der konstitutiven Heterogenität modernen Lebens und Plessners exzentrische Positionalität als grundlegende Bestimmung der konstitutiven Nichtabgeschlossenheit des Menschen – beide Fassungen aus dem Jahre 1928 – stehen für soziologische und philosophisch-anthropologische Großversuche, dem Drängen der eigenen Zeit nach Obdach, nach metaphysischer Heimat, nach Grund und Identifikationsüberwölbungen nicht nachzugeben, sondern im Gegenteil das Aus-den-Fugen-Geraten moderner Lebenswelt und moderner Subjektivität als genuinen Eigenwert gegenwärtiger Societas und Eigenwert des Anthropos zu stärken.[17] Nicht Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos als eine quasi überhistorische Konfiguration des Menschen, die ihre historischen Bedingungen unaufgeklärt ließ, sollte Referenz sein für eine politisch-wissenschaftliche Menschenfassung, sondern vielmehr Rimbauds und Baudelaires „Il faut être absolument moderne“; also eine Fassung, die dem Menschen darin vertraute, aus Inkohärenzen, Widersprüchen, Unordnungen, Traditionsverlusten und Gedächtnisverlusten der Dinge so etwas wie Selbstverständlichkeit, wie Normalität zu destillieren. Kamper ging dem gleichsam nach, im Sinne eines Richtungsgevierts für die Beschreibbarkeit nicht mehr gehaltener Körper, nicht mehr stehender, also aufrechter Menschen. Aber er überstieg gleichsam diese Bewegung der Moderne, indem er sie als rasende, vernichtende, fluchtartige Bewegung, kurz: als unaufgeklärte Mobilisierung zu identifizieren suchte. Er war darin – so meine tiefste Überzeugung – einer der letzten modernen Denker ästhetisch-aisthesischer Provenienz.

Alle ihm widerfahrenen Verdächtigungen, sein Denken und Schreiben sei Gegenaufklärung, Esoterik und schlicht unverantwortlich, gründen in zumeist gewollter Uninformiertheit.[18] Sein radikales Nichtgeltenlassen moderner, großformatiger ‚Überwölbungen’, die lange, bis heute noch unter dem Firmenschild des Fortschritts und der Emanzipation durch den Menschen hindurchgehen; seine Unerbittlichkeit, in modernen Lebens- und Denkformen, die rhetorisch oder verfahrenstechnisch eine „Zeit nach dem Opfer“ behaupten, mit filigranem Gespür das ignorante Selbstopfer eines absoluten Geistes festzustellen, der erst zur Ruhe kommt, wenn jeglicher „Stoffwechsel“ unbrauchbar, unnotwendig, unwichtig geworden sein wird: beides ist nur richtig nachvollziehbar im Wissen darum, daß Kamper am „Firmamentcharakter der Freundschaft“ festhalten konnte – Freundschaft als die einzige soziohistorische Organisationsweise der Menschen, mit der etwas anzufangen sei. Freilich meinte er eine gnadenlose Freundschaft; und freilich ein niemals Ruhe stiftendes Netz der Freundschaft, das Tonos spinnt.

Kampers nicht mehr dialektischer Überstieg der Moderne brachte ihn gleichsam zu einem eigenartigen Verdacht, den er an dieser okzidentalen Einmalerfindung des Individuums festzumachen suchte, nämlich zum Gedanken, „es könnte im Gegenlauf zur offiziellen Geschichte der Moderne eine andere passiert sein, die im wesentlichen verzehrend, verbrauchend, verwertend war, in der die Menschen etwas vollzogen haben, was sie weder wollten noch wußten, eine Art Selbstwiderlegung mit beinahe tödlichem Ausgang. So betrachtet, wäre das Individuum [..] ein Programm, genauer: eine programmatische Skizze, die faktisch eine andere Rolle gespielt hat als gedacht. So betrachtet erscheint der Inbegriff der Moderne als ein Deckmantel, unter dem aufgehäuftes menschliches Kapital in ebensolcher Weise verbraucht worden ist wie Bodenschätze der Erde und die Reichtümer des Himmels.“[19] Doch nicht nur „die Moderne“, sondern gleichsam auch die „Gegenhaltung“, ein „Il faut être absolument traditionel“, wurde von Kamper aufs Entschiedenste kritisiert. In einem Brief an Tirmisiu Diallo vom 31.10.1998 heißt es demgemäß:

„Il faut être absolument traditionel. So heißt es richtig und nicht: Il faut absolument être ... Aber auch als richtiggestellter ist der Satz unsinnig, unerhört und unausgesprochen. Er kann nur am Punkt seines äußersten Gegenteils formuliert werden: Il faut être absolument moderne. Dieser Satz immerhin ist ausgesprochen worden, wenn auch als Kurzformel eines Scheiterns. An beiden Sätzen wird das Schicksal eines exponierten Menschheits-Zusammenhangs deutlich, der erst im nachhinein in seiner doppelseitigen Unzulänglichkeit rekonstruiert werden kann: es ist ebenso unmöglich gewesen, absolut modern zu werden wie es unmöglich war, absolut traditionell zu bleiben, es sei denn man hätte beides zugleich realisieren können. Das aber erscheint in einer Zeit, in der man weder modern noch traditionell sein kann, als noch unmöglicher. Es geht um ein hochgespanntes Sowohl-Alsauch, das dem aktuellen politischen Weder-Noch gewachsen ist.“

 

In einem kurzen abstract für die Ringvorlesung Umzug ins Offene im Wintersemester 1999/2000 an der Freien Universität Berlin schreibt Kamper unter der Überschrift Verkehrung, Überschreitung, Steigerung, Umstülpung. Metaphern gescheiterter Umzüge ins Offene:

„In der Weise einer nachgehenden Metaphern-Kritik der wichtigsten Akronyme des 20. Jahrhunderts sollen die Schwierigkeiten aufgezeigt werden, die derzeit bei den Wegen aus der Enge, aus den Sackgassen, aus der Aporie auftauchen können. Die Metaphern korrespondieren überraschenderweise mit der ‚Stellung des Menschen im Kosmos’ (Max Scheler), mit der Stellung eines isolierten Körpers im Raum. Sie reformulieren eine körperliche Grundordnung, die nicht mehr gehalten werden kann, nämlich (in der genannten Reihenfolge): links/rechts; hinten/vorne; unten/oben; außen/innen. Vierfaches Thema ist also: 1. die Verkehrung von links und rechts mit all ihren inzwischen stattgefundenen Wenden und Kehren, 2. die Überschreitung von Grenzen, an denen sich unterderhand der Fortschritt in Rückschritt verwandelte, 3. die Steigerung und übertriebene Steigerung nach oben, die den Menschen zum Fall machte und immer wieder Abstürze nach sich zog, 4. die Umstülpung der Haut, bei der einem das Fell über die Ohren gezogen wurde, nach dem Motto: ‚your outside is in, your inside is out’“.[20]

 

Für Kamper ist die aus der französischen Revolution herrührende und in der klassischen Moderne behauptete Möglichkeit, eine neue Gesellschaft mit neuen Subjekten herstellen zu können, keine Zäsur mit der bis dato stattgehabten Gesellschafts- und Geistesgeschichte, sondern vielmehr deren Forcierung, deren Radikalisierung, deren Temporalisierung. Er nannte diese moderne Etappe der Geschichts-, Körper- und Sterblichkeitsvernichtung auch den Zustand des „Ultra“[21]: ein Zustand der Indifferenz, der Gleichgültigkeit, der schlechten Unendlichkeit, der bösen Ewigkeit, der versiegelten Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit. „Hölderlin“, so Kamper, „ist um den Preis des Wahnsinns der Erfahrung des Abgrunds treu geblieben. Bei Hegel steht an der Stelle seines Verrücktwerdens das System.“[22] – Es entschied sich für Dietmar Kamper weder das eine noch das andere. Doch dafür das unermüdliche Suchen einer dritten, schließlich einer exzentrisch paradoxalen n-ten Position, einer Idiosynkrasie, einer nichtdualistischen Hermetik, letztlich: eines KörperDenkens, um auf der Grenze, die er selbst war, weiter denken zu können, ohne in die Verrücktheit des Wahnsinns (die Zerstreuung ins Nichtganze) oder des Denksystems (die Faschisierung durch ein Ganzes/Bild) zu geraten.[23]

 

III KörperDenken/Chaos/Idiosynkrasie

 

„Allen Theorien liegen Erzählungen zugrunde, allen Erzählungen Szenen, allen Szenen Figuren, allen Figuren Bilder, allen Bildern Verletzungen“[24]

 

„Seit Karlsruhe letzten Sommer [Sommer 1998; B.T.] schwebt mir ein KörperDenken vor, daß die Manchfaltigkeit auch bei sich selbst nicht mehr abweist. ‚Einheit, Zweiheit, Einheit’ – das ist als Modell der seichten, dummen Identität so sehr verbraucht, daß wir nun weiter als bis Drei zählen müssen.“[25]

Dieses „weiter“, dieses Hinauskommenwollen über Differenz und Indifferenz, über die Identität von Differenz und Identität (Hegel) auf der einen und Differenz von Differenz und Identität auf der anderen Seite (Luhmann, Derrida), startete Kamper beinahe flüchtig von der Einsicht Deleuzes ausgehend, daß es Manches und Faltiges, also Männliches und Weibliches gebe. Diese Manchfaltigkeit (die heutzutage, wenn ich es recht sehe, unter dem alten, wenngleich neu aufgelegten Begriff „Multitude“ von Negri/ Harth kursiert) bildete die letzte von fünf frühen Bestimmungen dessen, was Kamper KörperDenken nannte:

KörperDenken heißt zunächst:

Ins Souterrain der Bilder einsteigen.

Die selbstgemachten Ungeheuer wahrnehmen.

Fernstenliebe (Telepathie) der auch in der Nähe entfernten Körper.

Das Tote als Totes festhalten und die modische Zombie-Existenz nicht annehmen.  

Es kann und muß aufs Spiel gesetzt werden: das Leben vor und nach dem Tod. In Rücksicht auf die einbekannte Sterblichkeit. In der Linie des Feuers. Im Abbruch des Ewigen und des Universums. Denn nur die lebendige sterbliche Zeit räumt den Raum zum Leben ein.

KörperDenken heißt fernerhin:

Selbstvergessenheit. Das ist nicht Selbstbehauptung, nicht Selbstverzicht. Das ist jenseits von Egoismus und Altruismus. Statt Einheit: Manchfaltigkeit. Das ist zusammengesetzt aus „manches“ und Falten, aus Männlichem und Weiblichem. Verzicht auf Herrschaft und auf Knechtschaft, Ausstieg aus der Dialektik von Siegern und Verlierern, aber von der Seite der Verlierer aus.“[26]

Im Buch Horizontwechsel findet man die Manchfaltigkeit dann wieder: als eine von fünf Essenzen des Kamperschen pathischen Pentagramms in Abwandlung der Quintessenz von Viktor von WeiszäckersPathosophie[27], ein für Kampers Leidenschaftsbegriff enorm wichtiges Buch. Neben den Ausführungen zu den Essenzen Leiden, Hilfsverben, Unterwegs und Logik steht unter Manchfaltigkeit dies:

 

„Die Fünfzahl liegt weit jenseits des Monotheismus der Vernunft, weit jenseits der Binarität des gesunden Menschenverstandes, jenseits auch noch der Trinität der Spekulation und der Dialektik. Man muß weiter als bis drei zählen können, um eine Ahnung von der Vielfalt der Dinge zu bekommen. Das grenzt an Zauberei. Weshalb das Pentagramm auch Drudenfuß heißt. Das Muster lautet: Es gibt Manches und es gibt Falten in unregelmäßiger Verschränkung.“[28]

 

Kamper eröffnete diese neue Denkbewegung in der ‚Verschränkungsfigur’ namens Idiosynkrasie als eskalierte neue Unmöglichkeit auf seinem Weg von der Wissenschaft zur Leidenschaft als Wissenschaft. (Und gleich darauf, so seine Selbsteinschätzung, widerfuhr sie ihm auch persönlich.)[29]

Nach dem ‚Einklinken’ von Sinnsystemen, Ideologien und Diskursen in die filigranen Zwangszirkularitäten moderner Kontrollgesellschaften erscheinen jetzt „Idiosynkrasien als eigentümliche Mischungen von Subjekt und Objekt, als Einfaltungen der Welt in den Körper und des Körpers in die Welt“, so Kamper.[30] Diese Sichtweise Kampers hat seinen Grund. Er liegt in der zumindest publizistisch abgeschlossenen eigenen intellektuellen Bewegung eines Abgangs vom Kreuz[31], sprich: in der für Kamper fundamentalen Diagnose des unmöglichen Austauschs[32] zwischen Mensch und Gott in den Attributionsformationen körperlos (Mensch) und tot (Gott). Dies hat enorme Konsequenzen für das Denken selbst, das, wenn es dem Letalen Fassung zu geben vermag, kein Lückenbüßer mehr sein kann, sondern sich selbst in „absoluter Zerissenheit“, in einer Chaosmose zu begegnen hat, die weder auf Ordnung noch auf Unordnung zu setzen erlaubt. Hier ging Kamper offensichtlich vom ‚Konzept’ Hegels aus, aber zugleich weit darüber hinaus.

 

Exkurs

Wenn man den Begriff Chaos etwas weniger als 200 Jahre in die Begriffsgeschichte zurückschickte – auf der Suche nach einer nicht ganz abwegigen Quelle seiner –, so könnte man fündig werden in Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807), genauer: in diesen für mich weiterhin ungeheuerlichen Sätzen Hegels, die das Verhältnis von Leben, Tod und Denkenskraft innerhalb der Negativität des Analysierens behandeln. Die „ungeheure Macht des Negativen“, „die Energie des Denkens“, das „Leben des Geistes“: das sind Hegels Umschreibungen für eine aufzubringende Kraft, um das durch Analyse Getötete festzuhalten, um im Tode selbst das Leben zu erhalten. Er umschrieb damit das vollständig nüchtern gewordene „order from noise“ der Kybernetik, allerdings noch mit Angabe des Preises (den Kafka dann im „Schweigen der Sirenen“ exakt benannte). Der gesamte Zusammenhang, in Hegels Worten:

 

„Eine Vorstellung in ihre ursprünglichen Elemente auseinanderlegen, ist das Zurückgehen zu ihren Momenten, die wenigstens nicht die Form der vorgefundenen Vorstellung haben, sondern das unmittelbare Eigentum des Selbst ausmachen. Diese Analyse kommt zwar nur zu Gedanken, welche selbst bekannte, feste und ruhende Bestimmungen sind. Aber ein wesentliches Moment ist dies Geschiedene, Unwirkliche selbst [...]. [...] Aber daß das von seinem Umfange getrennte Akzidentelle als solches, das Gebundene und nur in seinem Zusammenhange mit anderem Wirklichen ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs. Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. [...] Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, [..] sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“[33]

 

Wenn man gewillt ist, eine Art begriffstheoretische Genealogie ‚des Chaos’ auszumachen, dann, so meine Überzeugung, könnte man Chaos im emphatischen Sinne verstehen als die sich heutzutage von bewußtseinsphilosophischen Rahmungen unabhängig gemachte (Zauber)Kraft, die das Leben im Tode erhält; allerdings um den Preis, nicht mehr befähigt zu sein, das Negative in das Sein umzukehren – es bleibt nun beim Werden (um es paradox zu formulieren)[34], also bei dem, was als letzte Aufschreiber Deleuze und Guattari hinterlassen haben als möglichen ‚dritten Weg’. Kampers Umgang mit dem Chaos, verstanden als „stehender Sturm“ eines bis ins Unerträgliche blockierten Stoffwechsels, könnte als „dieser Rest“ verstanden werden, der formalisierte Zeichensysteme resp. symbolische, technische und mathematische Maschinen darin scheitern läßt, in der Suche nach Negentropie, nach Ordnung, nach Regelmäßigem und Regelgemäßem eine von der Realität nicht mehr störbare Realität zu konstruieren. Chaos stünde dann dafür ein, daß trotz der immer rigideren Vergesellschaftung extremer Materialferne der wissenschaftlichen Produkte der Analyse des Mate­rials das Produkt weiterhin noch aus Material besteht, und daß es weiterhin noch Material gibt jenseits des Produkts (der Analyse, der Abstraktion, der Synthese). – Das könnte denkbar sein, versteht man Chaos im emphatischen Sinne. Versucht man jedoch, wie Kamper Chaos exzentrisch paradox zu verstehen, dann stellt sich diese Hegelsche Gestalt der Lebenserhaltung im Tode nicht mehr ein. Chaos als basale Voraussetzung für Mischungsverhältnisse (von Leben und Logik), wie auch Körper als basale Gestaltung wirklich existierender Mischungen (verschiedenster Daseinsbereichsprogramme) hätten aufgehört, Voraussetzung und Gestaltung zu sein. Waren Idiosynkrasien im Sinne körperlicher Chaosmose sozialphilosophisch und soziologisch deutbar als Gestaltungen der existierenden Wahrheit der Materie, daß der Geist nur körperlich zu seiner Wahrheit kommt – als explosives Gemisch, das den entmischenden Geist einlöst in Gestalt einer Auflösung der Analysierbarkeit von Welt als Produkt der Analyse –, so sind nun vom Chaos im exzentrisch paradoxen Sinne keinerlei Ein-Lösungen mehr zu erwarten.

Exkursende

 

Und dennoch bestand Kamper trotz aller Abschreibungen von Hoffnung, von Heil, von Synthese oder Ewigkeit auf einen Begriff der Rettung. Allerdings nur und ausschließlich Rettung der diskontinuierlichen Vergangenheit der Verlierer. Der zentrale, beinahe mandatierte Verlierer der Geschichte des abendländischen Menschen ist für Kamper der Körper, und zwar in allen Derivationen: als Leib, als Körperlichkeit, als Metapher, als Berührung, als physikalischer Stoff, als Stimmung. Die Bedingungen einer möglichen Rettung der Vergangenheit der Verlierer, die nur ihre Körper haben/ sind (während Sieger Gründe besitzen), setzt Kamper so an: „Nur die Vergangenheit kann gerettet werden, und zwar nur blitzartig, wenn das Alphabet eines KörperDenkens auftaucht und erste Sätze einer Sprache des Menschengeschlechts in schneidender Aktualität formuliert werden können.“[35] Zu Beginn gemeinsam mit Hans Ulrich Reck versuchte Kamper in Idiosynkrasien erste Ansätze eines möglichen Alphabets des körperlichen KörperDenkens aufzufinden und mit einem geistigen KörperDenken zu verbinden; notwendigerweise paradox durch die Figur des unmöglichen Austauschs und der unmöglichen Signifizierung. Letztere muß als eindeutige Konsequenz seines Abgangs vom Kreuz verstanden werden: Denn seine Abstraktions- und also Imaginationskritik ging zwar von der Überzeugung aus, daß die Kreuzigung des Kreuzes – so verstand er die abendländische Abstraktionsleistung – nur den toten Gott wiederholte (und eben nicht wieder-holte). Aber für ihn war gleichsam evident, daß nicht das Kreuz selbst das Zeichen sei: das Zeichen ist das Kreuz. „Abgang vom Kreuz heißt also, [...] die impliziten und expliziten Grenzen der Zeichenwelt zu bezeichnen, aber im Namen der Materialität, im Namen des Holzes“[36], in Namen, so kann man hinzufügen, des idiosynkratischen Körpers.

 

Idiosynkrasie als schneidende Aktualität[37], als eigentümliche Mischungen von Subjekt und Objekt, als nicht mehr differenztheoretisch beschreibbare Einfaltung der Welt in den Körper und des Körpers in die Welt – diese Idiosynkrasie-Bestimmung Kampers wird dann kurz darauf in die Bestimmung einer dritten Stufe der conditio humana münden, deren ersten beiden Stufen Kamper epigrammatisch so zu fassen suchte:

1.     Tod des Körpers, Leben der Sprache ® Zivilisationsgeschichte: Abstraktionsprozeß; Differenz von Realität und Symbol.

2.     Tod der Sprache ® Posthistoire: Übergang von der Phantasie zur Maschine; Simulation.

Die dritte wird lauten:

3.     Exzentrische Paradoxie ® Generative Programmatik: Entdifferenzierung von Tod und Leben.

 

Mit Idiosynkrasien wird der stillgestellte Austausch zwischen dem Leben und dem Tod eigentümlich figürlich und gleichsam dezidiert körperlich und zeitlich zugleich – eigentümlich figürlich, weil Idiosynkrasien nicht binärer „Natur“ sind, also nicht bestimmbar sind als entweder dem Leben oder dem Tod angehörige Weisen des Mit-Welt-Seins; körperlich, weil sie in ihrer Ausdrücklichkeit weit über die Verstricktheit und Komplexität hinausgehen, die dem Unbewußten eigentümlich ist, das noch weitgehend mit dem Bewußt-Sein referenziert wird; zeitlich, weil die moderne Arbeit an der Abschaffung des Todes mittlerweile Effekte zeitigt in evolutionär so tiefliegenden „Lebensfunktionen“ wie dem biologischen Immunsystem, das in Jahrmillionen entstanden und quasi-automatisch den unaufhörlichen Verkehr zwischen viablen und letalen Ereignissen kontrolliert(e). Mit Idiosynkrasien, besonders der Form der autoaggressiven Immunität, erreicht die Aushaltbarkeit des Unerträglichen eine entscheidende Grenze; denn ihr ist nicht mehr ideologisch, nicht mehr symbolisch, nicht mehr diskursiv, nicht mehr psychoanalytisch und auch nicht mehr sozial beizukommen. Mit ihnen müßte eine Korrespondenz geführt werden, die in einer Sprache des Lebens passierte, und nicht mehr nur mit einer Sprache innerhalb des Lebens. Folgte man hier einer einfachen Dialektik, so wären die Phantasmen der biotechnologischen Großforschung betreffs des Findenkönnens der Sprache des Lebens (Genetik) quasi idiosynkratische Reaktionen auf den gegenwärtig erreichten Stand des Versiegens von Korrespondenzen zwischen Leben und Tod.

Idiosynkrasien radikalisieren also den erreichten Stand der gesellschaftlichen Vermittlung von Unmöglichkeit des Austauschs, und zwar theatralisch. „Das Theater“, so Kamper, „hatte immer mit der Darstellung des Unerträglichen zu tun. Der zerstückelte Körper des Gottes Dionysos war eine Verständnisfolie für den Skandal eines sterblichen, weil individuellen Lebens, das von sich weiß. Erst mit der Verhärtung [..] durch lebenslängliche Identitätskonzepte wuchs das Unbewußte an und hat der Körper ersatzweise begonnen, ‚Theater zu spielen’. [...] Erst die Verengung des Bewußtseins in einem frame of reference hat überhaupt den Grund dafür abgegeben, daß es ein Unbewußtes gibt, das nun seinerseits Wirkungen en masse produziert, in die der Körper einbezogen ist.“[38]

Die Konsequenzen dieser von Kamper verstandenen Katastrophe des Sinns, die mit der idiosynkratischen Theatralität in den Körper einbricht, sind fundamental, erzwingen sie doch einen Abschied von „der Kunst“ als letzter Ort, an dem menschliche Arbeit noch am Leben orientiert ist (und nicht am Tod, an der Sprache). Kamper, abschließend: „Die Kunst wäre [..] ein gnadenloser Kampf um die absolute Sinnlosigkeit, wie sie in der Idiosynkrasie probeweise inszeniert und in den auto-aggressiven Momenten eines verzweifelten Immunsystems unentwegt zur Aufführung gelangt. [...] Die symbolische Ordnung wird diabolisch unterlaufen und die Selbstfremdheit fungiert als Kobold in einem Spiel, dessen Ausgang längst ungewiß ist wie das Leben.“[39]

 

Man kann hier die Stelle ausmachen, an der Dietmar Kamper die moderne Ästhetik verläßt, um ihr Ansinnen weiter verfolgen zu können; an der er die philosophisch anthropologische Grundierung von Offenheit des Menschen verläßt, um ebendiese Offenheit weiter denken zu können. Wenn nämlich die Ästhetik am Rande der Moderne hauptsächlich darin ihr Sujet hatte, in einer Mimesis des Todes die tödliche Strategie des Individuums zu wiederholen in der Hoffnung, die Totstellreflexe durch Reflexionen lösen zu können, so konstatiert diesbezüglich Kamper: „Meist aber kommt nur eine Dehnung der Katastrophe zustande, eine mühselige Verlangsamung der Zeit.“[40] Ästhetik, so sie nicht das Rätsel bedient, wie sich das Absterben des Körpers durch tote Bilder vollzieht, und so sie nicht als letzter Gipfel des Mimesis sich in Gänze auf die Seite der Verwertung des Zerfalls stellt, wird in dieser Sichtweise beinahe unmöglich, so sie nicht im Bilde zu sein versucht.

Anders verhält es sich mit dem, was Kamper die sozioakustische Aisthesis nannte. Wenn es nur auf der Rückseite der Bilder Körper gibt, und zwar immer nur fragmentarische, zerstückelte, fraktale Körper, und also Bilderlosigkeit die Bedingung dafür ist, der Körper gewahr werden zu können, dann braucht es die Bestimmung eines Ortes möglicher Begegnung, also ein aktives Verlieren der Orientierungsfunktion des Auges und der Rahmensetzung durch Optik, und die erneute Einsetzung einer sozialen Akustik als die gesellschaftshistorisch primordiale Dimension der Organisation sozialer Wahrnehmung. Den Idiosynkrasien der Körper ist nur mit einer Horizonterweiterung sozialer Aushaltbarkeit von Dissens und Dissonanzen beizukommen: Hörend, stimmend, „im“ Melos, nicht im Logos.[41]

Mit dieser Fassung einer sozio-akustischen Aisthesis als Fortgang einer zumeist sozio-optischen Ästhetik hielt Kamper an der zentralen modernen Auffassung von Kunst fest, wie sie Adorno weiterhin gültig umschrieben hat: „Kunst wird human in dem Augen­blick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeg­licher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen al­lein durch In­humanität gegen sie.“[42]

 

 

IV Paradoxie/Nullpunkt/Nulldimensionalität

 

„Der Versuch, die Welt durch Zeichen eindeutig zu machen, war und ist eine Weise der Weltvernichtung. Das hat nicht nur die Definitionen, sondern auch die Metaphern diskreditiert. Einzig Chiasma-Sätze halten noch: je mehr Ordnung, desto mehr Unordnung. [..]

Es trifft allerdings nicht zu, daß sich das Denken – wie behauptet wird –  in Paradoxien und Chiasmata erschöpft. Das Scheitern der Signifikation ist kein endgültiges Desaster, sondern ein anderer Anfang“[43]

 

 

Die Annahme, daß das Verhältnis zwischen der Anthropologie des Menschen und der Soziologie seines In-sozialen-Beziehungen-Seins weiterhin experimentell ist, konnte Kamper nur noch in einer radikalisierten ex negativo-Denkbewegung verfolgen, gleichsam exzentrisch. Sprich: Es gibt keinerlei Möglichkeit mehr, dieses Verhältnis zu beobachten, zu planen, zu theoretisieren, zu philosophieren. Das Verhältnis hat sich in etwas zurückgezogen, das nicht mehr innen ist; das Verhältnis hat sich in etwas ‚hineinevakuiert’, das nicht mehr außen ist. Die Vermittlung, so könnte man Adorno paraphrasieren, die so total geworden ist, daß sie als das Unmittelbarste erscheint, macht eine erneute Modelung durch: sie erscheint nun nicht mehr; und sie ist nur noch als Nicht-Mitteilung und als Nicht-Mitteilung zu denken (dies aber nur, weil der gesellschaftliche Vorgang der Teilung einer geworden ist, so die These, für den es bis jetzt keine Sprache gibt).[44]

Vereinfacht ließe sich sagen, daß die Erfindung des Menschen durch die Wissenschaften seit Mitte des 18. Jahrhunderts (Foucault) am Menschen Dispositive aufmachte, in denen vielfältigste, meist grausame Experimente passierten. Diese Experimente in den Dispositiven am Menschen haben palimpsestische Struktur und werden von den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften bearbeitet (Schriftkultur im weitesten Sinne). Zugleich aber hört das Experimentieren in den bekannten Dispositiv-Formen am Menschen auf; die Zeit der Lektion, der Bildung, des Ansteuerns des Sozialwesens „Mensch“ läuft aus und wird abgelöst von Dispositiven und Experimenten, die dasjenige ansteuern, das schon vor der Erfindung des Menschen da war: seine kreaturale Dimension. Mithilfe avanciertester Techniken der Moderne beginnt eine vormoderne Arbeit am Menschen. Übrig bleiben Menschen, die mit ihren unterschiedlichsten geschichtlich-gesellschaftlichen Hüllen (animal rationale, symbolische Ordnung, Kommunikation) wie lose Fäden im Geschichtsvakuum ‚hängen’. Für diesen „Zustand“ der gegenwärtigen Verfaßtheit von Mensch und Gesellschaft steht der Begriff exzentrische Paradoxie[45] ein, den Dietmar zusammen mit mir bedenkbar machen wollte.

Exzentrische Paradoxie würde dafür einstehen, daß Menschen einen Zeitraum bezogen haben, in dem sie zugleich anwesend abwesend und abwesend abwesend sind – das bedeutet zumindest eine Verrückung des Seins; in dem sie zugleich im Innen außen und im Außen außen sind – das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sozialen; in dem sie schließlich im Essentiellen nur noch mit entweder möglichen Unmöglichkeiten oder unmöglichen Unmöglichkeiten zu tun haben – und das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sinns. Diese Unmöglichkeiten, die sich an die Begriffe Leben, Tod und Zeit heften, sind: Die Unmöglichkeit, den Tod zu töten; die Unmöglichkeit, das Leben zu töten; die Unmöglichkeit, die Zeit zu töten. Innerhalb der fortgeschrittenen historischen Formationen der Menschengattung hat sich die melancholische Einsicht in die Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit, den Tod zu töten, eingestellt; die Grenze ist hier, Sterblichkeiten auszurotten; hat sich die aggressive Einsicht in die Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit, das Leben zu töten, eingestellt; die Grenze ist hier, Lebendigkeiten zu töten. Übrig geblieben ist die momentan statthabende Zeit, die noch versucht, an die Grenze der Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit, die Zeit zu töten, heranzukommen.

 

Diesen Zustand der Menschen und der Körper versuchte Dietmar Kamper in seiner letzten großen Denkbewegung historisch anthropologisch in den Dimensionen des Schicksals, des Zufalls und der Gefahr auszuloten, dabei unterstützt und inspiriert durch medienphilosophische Überlegungen Flussers zum „Projekt Menschwerdung“.[46] Ausgangspunkt für beide ist die Abkehr von Unsterblichkeitssehnsüchten, die sich massiv Realität verschafften, hin zu einer Wirklichkeits(er)zeugung, die von Sterblichkeit ausgeht. Die operative Dimension dieser (Er)Zeugung verhält sich so, wie George Spencer Brown es zu beschreiben suchte: „’Wir’ erzeugen eine Existenz, indem wir die Elemente einer dreifachen Identität auseinandernehmen. Die Existenz erlischt, wenn wir sie wieder zusammenfügen. [..] wir kön­nen kein Ding produzieren, ohne Koproduktion dessen, was es nicht ist, und jede Dualität impliziert Triplizität: Was das Ding ist, was es nicht ist, und die Grenze dazwischen“[47]. Spencer Brown hat sich hier für das Nicht­erlöschen (eines Nicht-Seins) entschieden und stellt durch seine tiefe Versenkung der sich ergebenden konstruierten nichtgegebenen Weltexistenz in die Form des bezeichnenden und unterscheidenden Weltkontaktes auch klar, daß es an­ders gar nicht gehen kann: „Either you can see an appearent universe by being selectively blind, or you can see it all equally in which case it must disappear and so must you. Since both in reality are equally possible, but not more than possible (the laws of form are not more than the laws of the possible), there is really nothing to choose between them“.[48]

Daß man also zwei Zustände definieren muß, um irgendetwas zu kennzeichnen, und daß man drei Elemente erschaffen muß, um diese zwei Zustände definieren zu können; und daß nichts davon existiert im Sinne einer beobachterunabhängigen Realität: All das läßt die ‚Konzeption’ von Spencer Brown wie eine ‚epistemisch’ totalausgeweitete Fassung des Konzepts „Bezeichnetes/ Bezeichnendes/ Zeichen“ erscheinen, eingepaßt in den Motorteil eines Sinnbegriffs, der das aktual Mögliche und Passierende immer innerhalb des potentiell Möglichen und Passierenden faßt. Sollte es einmal anders sein, so Spencer Brown, also so, daß eine Erfahrung im ersten gleichzeitig schon auch beim zweiten, in zweien gleichzeitig schon auch beim dritten, in dreien gleichzeitig schon beim vierten ‚ist’ usw., also im aktualen Passieren gleichzeitig auch schon im potentiellen sich aufhält, oder so, daß die Verwendung eines Zeichens zur Bezeichnung eines Bezeichneten uno actu diese Unterscheidungen aufhebt durch die Verwendung selbst: Sollte es also einmal so oder (so) anders sein, dann spreche man vom Tod.

Spencer Brown versteht also unter Todeserfahrung, beide Seiten jeder Unterscheidung gleich(zeitig) zu sehen. „Dies ist definitionsgemäß absolutes Wissen oder Allwissenheit, mathematisch unmöglich, außer gleichgesetzt mit keinerlei Wissen überhaupt“.[49] Diese ‚Erfahrung’ setze dann ein, wenn die Beschränktheit unserer Sinne, wenn unser Einschluß in die Körperlichkeit zuletzt ganz verloren gehe (ebenda). Doch gerade die Körperlichkeit ist es, die Verbindung hält zum Wunsch nach Unsterblichkeit. Denn: „Indem wir unsere physischen Körper schützen, schützen wir in identischer Weise das Universum, welches jeder von ihnen erschafft. Unser Wunsch nach Unsterblichkeit ist ein Wunsch, daß sich dieses Universum niemals verändern möge [..]“ (ebenda). Spencer Brown wünscht sich keine Unsterblichkeit, entfaltet diesen Wunsch jedoch nicht von der Körperseite her, sondern von der des Wissens („selective blindness“). Der Wunsch nach totalem Wissen im oben beschriebenen Sinne entspringe zwar dem Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit/ Unveränderlichkeit; doch wenn man vom Wissen her entdecken kann, daß das „Wissen über nichts, welches eines ist, das das Wissen über die Form entdeckt“ (ebenda), das Potential ist für alle weitere Existenz, dann kann man zumindest wissen, daß es nicht wünschenswert, nicht möglich, daß es unmöglich ist, der Unsterblichkeit näher zu kommen – es sei denn, man hat Einlaß gefunden ins Jetzt, in die Nulldimension: denn jetzt ist immer, auf immer und ewig.

Dieser kurz skizzierte Einsichtsrahmen steht nun nicht einer mathematischen Verkörperung allein zur Verfügung, sondern eben auch den Vorhaben Flussers und Kampers, die als zur Zeit instruktivste Fassungen zur Frage angesehen werden können, wie ein neues Verhältnis zwischen Leben, Tod und Sein gedacht werden kann. Während Flussers ‚Modell’ sich eher projektiv, und das heißt: auf Information als Verkörperungsmedium hin orientiert[50], ist die Flussers Konzept aufnehmende und strukturierende theoretische Fassung Kamper eher retrospektiv, und das heißt: auf Information als ‚Entkörperungsform’ hin orientiert. Sie setzt sich zum Ziel, den Preis, das Leid, die Zerstörungen aufzuweisen, die sich durch operationalisierte Unsterblichkeitsapproximation ergeben haben.[51]

Beiden geht es darum, erste Anzeichen einer gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen, die nicht mehr ontozentrisch erfaßt werden kann, auch nicht mehr ontomorph und ontophil; die vielmehr beginnt, sich aus den Unterscheidungen Leben/ Tod, innen/ außen, integriert/ exkludiert, reflektierbar/ unreflektierbar zu lösen. Und damit hineinragt in eine (Nicht-)Dimension, die wahrscheinlich weder von Seiten der Ontik, noch von den Attributen der Philie oder Phobie, noch von Seiten der Kategorien der Information, des Körpers, des Lebendigen oder des Toten bedenkbar ist. Aber wie dann? Kamper erkannte in den nachgelassenen Schriften Flussers eine Möglichkeit, von der Nulldimensionalität der gegenwärtigen Zeit denkend den Rückschritt in die Nichtdimensionalität des leiblichen Zeit-Raumes zu probieren. Er ging dabei vom „anthropologischen Viereck“ Flussers aus.

 

„Die langsame und mühselige kulturelle Entwicklung der Menschheit läßt sich als ein schrittweises Zurückweichen von der Lebenswelt, als schrittweise zunehmende Entfremdung betrachten. Mit dem ersten Schritt zurück aus der Lebenswelt – aus dem Kontext der den Menschen angehenden Dinge – werden wir zu Behandlern, und die daraus folgende Praxis ist die Erzeugung von Instrumenten. Mit dem zweiten Schritt zurück – diesmal aus der Dreidimensionalität der behandelten Dinge – werden wir zu Beobachtern, und die daraus folgende Praxis ist das Bildermachen. Mit dem dritten Schritt zurück – diesmal aus der Zweidimensionalität der Imagination – werden wir zu Beschreibern, und die daraus folgende Praxis ist das Erzeugen von Texten. Mit dem vierten Schritt zurück – diesmal aus der Eindimensionalität der alphabetischen Schrift – werden wir zu Kalkulierern, und die daraus folgende Praxis ist die moderne Technik. Dieser vierte Schritt in Richtung totaler Abstraktion – in Richtung der Nulldimensionalität – ist mit der Renaissance geleistet worden, und gegenwärtig ist er vollzogen. Ein weiterer Schritt zurück in die Abstraktion ist nicht tunlich: Weniger als nichts kann es nicht geben. Daher wenden wir sozusagen um 180 Grad und beginnen, ebenso langsam und mühselig, in Richtung des Konkreten (der Lebenswelt) zurückzuschreiten. Daher die neue Praxis des Komputierens und Projizierens von Punktelementen zu Linien, Flächen, Körpern und uns angehenden Körpern.“[52]

 

Kamper übernahm dieses Geviert, nicht ohne eine fünfte Nichtdimension hinzuzufügen, um gleichsam dem pathischen Pentagramm von Müssen, Dürfen, Sollen, Können, Wollen zu korrespondieren.

Sein Schema der Körper-Abstraktionen stellte sich so dar:

 

nicht-dimensional       drei-dimensional        zwei-dimensional             ein-dimensional           null-dimensional

 

(LEIB)                          KÖRPER                         BILD                                     SCHRIFT                   (UN)ZEIT

 

Spüren                         Hören/Sprechen                Sehen                          Schreiben/Lesen           Rechnen

 

Haut                             Ohr/Stimme                       Auge                                     Auge/Hand                  Gehirn

 

ZEIT-RAUM              RAUM                              FLÄCHE                                      LINIE                          PUNKT

 

Die Schwierigkeit beim „Rückschreiten aus Rückschritten“, also von der Nulldimension rückschreiten bis zur Nichtdimension, bestehen nach Kamper darin, den Fall des Menschen von der Drei, vom Körper in die Null, ins nichts besser zu verstehen, vor allem seine Zwangsläufigkeit, und darin, die menschliche Eigenmacht als infantiles Syndrom zu denunzieren und zu erklären, wie es dazu kommt, daß der homo sapiens sapiens auf die von ihm stets neu erzeugte Unerträglichkeit der Welt und auf sein eigenes Elend darin, auf seine „selbstverschuldete Abgerissenheit“ (Günther Anders) immer nur mit einem neuen Wahn seiner vermeintlichen Gedankenallmacht geantwortet hat.[53]

Die Hoffnung dieser unterstellen Rückschrittlichkeit der Menschwerdung liegt hingegen darin zu, davon auszugehen, daß Ende und Zweck der menschlichen Geistestätigkeit auf Erden nicht in der endgültigen Vernichtung des Stoffs, der Materie, des Körpers zu sich kommen. Die Moderne, die Neuzeit, die Geschichte, so paraphrasiert Kamper Flusser, müßten einen anderen Sinn haben als den, im Bewußtsein des absoluten Wissens immerzu das radikale kleingeschriebene nichts ins Feld zu führen. Das wäre nichts als ein unaufklärbarer Wahn, eine selbstverordnete Dummheit von höchsten Graden, welche die Freiheit mit der Vernichtung verwechselt. „Unabhängigkeit ist Wahnsinn,“ schreibt Flusser, selbst dann, wenn sich daraus eine massenhafte ‚Realität‘ ergeben habe, die ihre Massenhaftigkeit mit der Gewißheit verknüpft, sich nicht irren zu können.

Mit dieser Forschungsfigur nahm Kamper dezidiert Abschied von einer Form der Kritik, die gewöhnlich die verbliebenen Kapazitäten aus den weniger abstrakten Dimensionen zu mobilisieren sucht, um der Gegenwart beizukommen. Vielmehr hat er mit Hilfe Flussers einen neuen, nichtrahmenden Rahmen gefunden, um auch die gegenwärtige Zeit der nulldimensionalen Rechenzeitpunkte mitnehmen zu können in ein „Projekt“ Menschwerdung, das für ihn eher als Projekt „Sterblichwerdung“ beschrieben werden muß.

In einem der letzten für die Öffentlichkeit bestimmten Blätter[54] taucht denn auch zum ersten Mal eine Begrifflichkeit für die Bestimmung eines Denkradius’ auf, für die Kamper sonst keine denkerische Verwendung gefunden hat: Fraktale Kosmologie. Es überrascht nicht, daß in den letzten Entwurfsätzen dieses Blattes ein Gestus sich Ausdruck verschafft, der mehr denn je der Einsicht Horkheimers verpflichtet ist, daß die Hoffnung der Vernunft in der Emanzipation von ihrer eigenen Furcht vor der Verzweiflung liegt. Kamper: „Eine Entklammerung [des] fatalen Zusammenhangs von weltlosem Menschen und unmenschlicher Welt kann es nur theoretisch geben, weil die ‚Quintessenz’ eine geistige Vorgabe ist, die – ins Unbewußte abgesenkt und abgesunken – solange funktioniert, wie sie undurchschaut bleibt. Historische Anthropologie und fraktale Kosmologie im Verein könnten hier Aufklärung leisten.“

 

V Statt eines Schlußsatzes

„Liebe Freunde,

ich habe, um wieder in Jahren rechnen zu können, etwas ausgeheckt: eine Anthropologie-Reihe bis zum Jahr 2004. Ich habe sie ausgeheckt, indem ich dem Wind gehorchte, ‚der in den untersten Regionen des Todes bläst’ (Kafka: Der Jäger Gracchus, Schluß). Denn es führt kein gerader Weg zurück ins Leben. Man kann aber die Frist verlängern, die das unterbrochene Sterben dauert, wunderbarerweise.

 

Begonnen hat das ganze Unternehmen, nach Präliminarien vor Ausbruch der Krankheit (Sâo Paulo und Neanderthal) in Dresden Juli 2001 ‚Der (im)perfekte Mensch’. Weitergehen soll es mit der Symposion-Fassung von ‚Der Mensch als Schicksal, Zufall und Gefahr’ in Berlin im April 2002, mit illustren Gästen. Im Frühjahr 2003 steht Bonn an, mit der Abschlußveranstaltung ‚Der Mensch als Quintessenz. Von der historischen zur fraktalen Kosmologie’. Enden soll es 2004 bei den Berliner Festspielen [...] mit einem Kongreß über ‚Exzentrische Paradoxie’. Weiter geht es nicht. Dann sollen andere übernehmen. [...]

 

Die Freunde im Netz (Köln, Karlsruhe, Berlin) sind vorab informiert und haben im Prinzip ihre Teilnahme zugesagt. Es ist aber auch daran gedacht, eigenwillig gestimmte Zeitgenossen, vor allem jüngere, die noch nicht gesprochen haben, einzuladen, nach dem bisher geltenden Muster: je fremdartiger die Stimmen, desto besser für die Atmosphäre. Widerstreit ist angesagt. Für Kumpane, die immer dasselbe bereits verstandene Zeug wiederholen, gibt es keinen Platz mehr.

Mit altersradikalen Grüßen

                                              Dietmar“

(16. Juli 2001)



[1] Derselbe, Horizontwechsel. Die Sonne neu jeden Tag, nichts Neues unter der Sonne, aber…, München 2001, p20.

[2] Derselbe, „Hermetiker an die Front“. Nachbetrachtungen zur Eröffnung der Reihe „Die Rose im Kreuz der Wirklichkeit. Eine Einführung in das hermetische Denken“ am 08.06.2000 in Köln. Loses Blatt, datiert Pfingsten 2000.

[3] Ich möchte damit die Bedeutung des Denkens Rosenstock-Huessys für das Denken Kampers um kein Jota schmälern, sondern nur zum Ausdruck bringen, daß der Dietmar Kamper, den ich kennengelernt habe und der mich hier interessiert, nicht mehr wesentlich mit Rosenstock-Huessys Denkkosmos in Verbindung stand.

[4] Alle Zitate auf einer der ersten unpaginierten Seiten jedes Paragrana-Heftes.

[5] Dietmar Kamper, Nach Dannen, ins erste Futur, unveröffentlichtes Manuskript, Otzberg 2000. Gleichsinniges zur Grenze hat Kamper auch dem Künstler Jan Fabre zugeschrieben: „Il ne transgresse aucune frontière, car il sait que chaque transgression emporte avec soi la frontière et que ces frontières ne peuvent s’ouvrir que sur une intériorité. L’éventuel retournement sur soi-même est son activité principale“; Dietmar Kamper, Sept Phrases à propos de L’Aptitude au Chaos de L’Artiste, in: Derselbe,  Jan Fabre ou L’Art de L’Impossible, Strasbourg 1999, p26.

[6] Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, ‚Frankfurter Ausgabe’, Bd.4: Oden I, hg. von Dietrich E. Sattler & Michael Knaupp, FFM 1984, p202.

[7] Horizontwechsel. Die Sonne neu jeden Tag, nichts Neues unter der Sonne, aber…, München 2001.

[8] Alle Zitate ebenda,, p8.

[9] Duden, Das Fremdwörterbuch, Bd.5, Mannheim u.a. 1990, p481.

[10] „Zunehmend spiegeln die Reste des Bewußtseins das Scheitern dieser fundamentalen Emanzipationsbewegung [der bürgerlichen Moderne; B.T.], die von den Schranken der Erde und den Grenzen des Himmels frei sein wollte – wenn auch nur undeutlich und so, daß sich kein einheitliches Bild mehr ergibt“; Dietmar Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, Ausgabe Reinbek 1990, p54.

[11] Sieh nur Rüdiger Bubner, Kann Theorie ästhetisch werden? – Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos, in: Neue Rundschau 4/1978, p537-553.

[12] Derselbe, Human Migration and the Marginal Man, in: The American Journal of Sociology, 33/1928, p881-893.

[13] Kampers letztes großes und leider nicht mehr begonnenes Vorhaben war, eine Geschichte des Ketzerei zu schreiben als Geschichte des gescheiterten Abgangs vom Kreuz, da sich Orthodoxie und Häresie vermählten. – Neben einer extraordinären Literatursammlung hat Kamper für dieses Vorhaben zwei Exposé-Texte angefertigt: „Der Augenblick des Ketzers. Methodologische Präliminarien“, datiert mit „in den Hundstagen des Jahres 2001“, sowie eine Gliederungsübersicht des Titels „Das verschattete Herz der Vernunft. Eine andere Ketzergeschichte“, mit der Kurzdarstellung von 10 Kapiteln; undatiert (um Pfingsten 2001).

[14] Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), GS IV, hg. v. G. Dux, O. Marquard, E. Ströker (u. M. v. R.W. Schmidt, A. Wetterer, M.-J. Zemlin), FFM 1981, p181ff., p303ff., p360ff.

[15] Plessner, Die Stufen..., a.a.O., p400.

[16] Plessner, Die Stufen..., a.a.O., p401.

[17] Was bekanntlich zu Luhmanns These führte, daß Kontingenz der Eigenwert moderner Gesellschaften sei.

[18] „Aufklärung, was sonst?“, war Kampers Antwort auf die Attacke Klaus Laermanns gegen ihn Mitte der 1980er Jahre. Mir scheint, daß Kampers Sätze oft nur zur Hälfte gelesen wurden. Etwa diesen: „Der böse Geist der Abstraktion muß zwar relegiert werden, aber nicht um der gestorbenen Religion aufzuhelfen, sondern um die immer verhinderte Freiheit zu befreien“ (Dietmar Kamper, Abgang vom Kreuz, München 1996, p8).

[19] Dietmar Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, Ausgabe Reinbek 1990, p55.

[20] Loses Blatt von Dietmar Kamper vom 20.01.1999.

[21] Vielleicht in Anlehnung an Goethe, der schon 1825 in einem Brief an seinen Freund Zelter davon sprach, daß jetzt alles ultra sei (Hamburger Ausgabe der Goethe-Briefe, Bd.4, p146). Zitiert bei Jochen Hörisch, Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, FFM 1999, p165.

[22] Dietmar Kamper, Nach Dannen,... a.a.O., o.S.

[23] Dieses Suchen fand für Kamper in seinen Begegnungen mit und seinen Aufenthalten in Brasilien, vornehmlich in Sâo Paulo, reichhaltige Unterstützung. In einem Papier mit der Überschrift „Ein Manifest für Sâo Paulo“ (datiert mit „Ostern 2000“) heißt es: „Es kommt nicht mehr darauf an, Recht zu haben oder zu behalten. Wichtiger ist die Offenheit der Sinne. Die Wirklichkeit muß ins Schwarze der Theorie treffen können. [..] Eine pathische Existenz ersetzt die Aktionsmanie der Macher. Auf Anhieb geht fürderhin alles daneben. Das Danebengehen entfaltet dabei eine Logik des ‚Para’, die nach und nach die ‚Meta’-Physik ablöst. Noch wird dergleichen als Schande für die Zunft angesehen, aber Scheiternkönnen ist die conditio sine qua non der Zukunft.“ (Siehe auch Horizontwechsel, a.a.O., p67 ff.)

[24] Dietmar Kamper, GeistesGegenwart und KörperDenken, in: Paragrana, Heft 6/1997: Selbstfremdheit (hg. von Dietmar Kamper), p247-267, hier: p266.

[25] Aus einem Brief von Dietmar Kamper an Peter Sloterdijk vom 20.12.1999.

[26] Dietmar Kamper, Brief an Jan Fabre, datiert „Mitte Dezember 1999“.

[27] Siehe demnächst (März 2005): Viktor von Weizsäcker, Pathosophie (in der Fassung letzter Hand), Bd. 10 der Gesammelten Schriften, hg. von Peter Achilles, Dieter Janz, Martin Schrenk (†) und Carl Friedrich von Weizsäcker, FFM 2005. Bis dahin: Pathosophie, Göttingen 1956, p57-86 + p356-367.

[28] Horizontwechsel, a.a.O., p140.

[29] Und zwar in Form eines recht frühzeitigen Ausschlusses seines Unterprojektes zu Idiosynkrasien im Rahmen der Beantragung eines Sonderforschungsbereiches namens „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin, der dann ohne sein Projekt Ende der 90er Jahre bewilligt wurde. Kamper schreibt in einem undatierten Brief an seine „Freunde“ des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie: „[D]as Projekt mit dem Titel ‚Idiosynkrasien’ wird mit mehr oder weniger idiosynkratischen Gründen in vorlaufender Unterwerfungsbereitschaft unter die DFG-Hoheit ausgeschlossen.“ – Mir kam zu Gehör, daß der Hauptgrund des Ausschlusses in der an DFG-Kriterien gemessen mangelhaften resp. DFG-inkompatiblen Ausführung des Projektantrages zu suchen gewesen sei. Den Antrag habe damals ich geschrieben.

[30] Horizontwechsel, a.a.O., p138.

[31] „Abgang vom Kreuz“ ist der Titel des 1996 erschienenen Buches von Kamper (München), in dem vom Tod Gottes einerseits ausgegangen und gleichzeitig versucht wird, die Macht des toten Gottes zu verabschieden; und damit sich selbst zu verabschieden von Versuchen, im Geist, in der Abstraktion, in der Virtualität sich seiner Unsterblichkeit zu versichern. Siehe Kapitel 1 und 2.

[32] „Der unmögliche Austausch. Der Körper spielt Theater mit dem Unerträglichen“ ist der Titel des Aufsatzes von Kamper im Paragrana-Band „Idiosynkrasien“ (Heft 2/1999, p36-44). – Kampers Beschäftigung mit Idiosynkrasien und damit mit dem Mirakel „Immunsystem“ scheint nicht unerheblich Einlaß gefunden zu haben in Peter Sloterdijks Sphärologie, vor allem in den Bänden II und III.

[33] Derselbe, Phänomenologie des Geistes, Bd.3 der Werke, FFM 1970, p35f.

[34] Siehe zur Fortsetzung Hegels durch Deleuze Laura Bieger & Annika Reich: Mit Deleuze auf dem Weg vom Problem zur Lösung, in: Bernd Ternes u.a. (Hg.): Einfache Lösungen. Beiträge zur beginnenden Unvorstellbarkeit von Problemen der Gesellschaft, Marburg 2000, p35-55.

[35] Abgang vom Kreuz, a.a.O., p14.

[36] Abgang vom Kreuz, a.a.O., p9.

[37] Ohne den Nachweis antreten zu können, bin ich davon überzeugt, daß Peter Sloterdijks umfassender Rekurs auf das Komplexsyndrom „Immunsysteme“ entscheidend durch Kampers Beschäftigung mitinitiiert wurde. Siehe etwa den Abschnitt „Weltseele in Agonie – oder: Das Auftauchen der Immunsysteme, in: Peter Sloterdijk, Schäume. Bd.3 der Sphärentrilogie, FFM 2004, p192-207.

[38] Dietmar Kamper, Der unmögliche Austausch, a.a.O., p41.

[39] ebenda, p44.

[40] Dietmar Kamper, Zwischen Simulation und Negentropie. Das Schicksal des Individuums im Rückblick auf das Ende der Welt, in: derselbe und Christoph Wulf (Hg.): Rückblick auf das Ende der Welt, o.O. [Klaus Boer Verlag], o.J., p138-145, hier: p140.

[41] Es ist an dieser Stelle ein Bedauern darüber zu äußern, daß Kamper seine Forschungen zur Sozioakustik (siehe etwa: Paragrana, Heft 2/1993: Das Ohr als Erkenntnisorgan) nicht weiter ausbaute zu einer Melos-Forschung, die erst, mit einem anderen Anschnitt, von Hans Peter Weber aufgenommen wurde im Rahmen seines Theorieprogramms „KreaturDenken“.

[42] Derselbe, Ästhetische Theorie, Bd.7 d. GS, FFM 1970, p293.

[43] Dietmar Kamper, Horizontwechsel, a.a.O., p67f.

[44] Zum Beispiel, auf das Glücksversprechen bezogen: „Es gibt keine objektiven Daten des dionysischen Glücks, daß man nämlich nur außer sich bei sich ist, daß man erst in der Tiefe seines Körpers bei den Göttern sein kann. Das Rätsel des gottmenschlichen Austauschs, der ein Stoffwechsel ist, kein Formwechsel, besteht darin, daß weder die Identität noch die Differenz bestimmend sein können, sondern eine exzentrische Paradoxie, ein Selbstwiderspruch, der keine Mitte mehr behauptet. Um dorthin zu gelangen, ist die Hilfe des Gottes angezeigt, der dem Vorgang/Rückgang/Durchgang seinen Namen geliehen hat. Nüchtern versteht man nicht, um was es geht, um was es ging, um was es gehen wird.“ Dietmar Kamper, Horizontwechsel, a.a.O., p107.

[45] Bernd Ternes, Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz, Marburg 2003.

[46] Konzentriert in folgenden Sätzen: „Noch einmal: Zur Geschichte der Einbildungskraft. 1231: Der Körper geht an die Schrift verloren; 1529: Der Körper wird vom Zeichen des Heils abgelöst; 1803: Der Körper widersetzt sich der Ware, der Kaufmannsvernunft; 1968: Der Körper wird entfesselt und aufs Spiel der Phantasie gesetzt. – Wie paßt das zu Flussers Eskalation? KörperRaum, BildFläche, SchriftLinie, ZeitPunkt? Die historische Eskalation hält sich zwischen Körper, Bild und Schrift. Sie markiert diverse Widerstände gegen die Bild- und Schrift-Abstraktion vom Körper, die zwar nicht erfolgreich waren, aber ihrerseits ‚Grundlagen’ für Kulturen wurden.“ Dietmar Kamper, Loses Blatt, undatiert (wohl 1998).

[47] Derselbe, Die Gesetze der Form, dt., intern. Ausgabe, Lübeck 1997, pXVIII.

[48] a.a.O., p196.

[49] a.a.O., p191.

[50] Derselbe, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, FFM 1998, z.B. p18, p26: „In der Richtung zu immer ‚höherer’ Abstraktion, die wir bisher eingeschlagen haben, geht es nicht weiter.“

[51] Derselbe, Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper, München 1999, z.B. p10: „Wir sind nämlich buchstäblich bei ‚nichts’ angekommen, in der Nulldimension des numerischen Denkens. Das war ein weiter Weg. Wir müssen diesen Rückweg zurückgehen: bis in die Körperwelt, in der wir Körper von Körpern sein können.“

[52] Vilém Flusser, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, FFM 1998, p21f.

[53] Dietmar Kamper, Horizontwechsel, a.a.O. p34. Ebenso das Schema.

[54] Titel des Blattes: Der Mensch als Quintessenz. Von der historischen Anthropologie zur fraktalen Kosmologie. Entwurf für eine Abschlußveranstaltung der Elemente-Reihe in der KAH Bonn; datiert mit „Otzberg, den 14.Juli 2001“.