Bernd
Ternes
„In den Marginalien wimmelt es, im
Zentrum aber ist es tot. Es ist töter als tot. Am tötesten. Eine solche Entdeckung läßt sich nur
verschmerzen, wenn man darauf verzichtet, den Unterschied von Leben und Tod zu
treffen. Sonst bleibt der Schmerz. Und die Wut“
Dietmar Kamper[1]
Hermetik ist als Wissen der
Sterblichkeit parteilich für den Körper im körperlichen Austausch, für die
Materie im materiellen Widerstand, für den Stoff, der seiner restlosen
Formalisierung entgegensteht und entgeht. Sie manifestiert sich in Chiasma-Sätzen“
Dietmar Kamper[2]
Auf einer der ersten Seiten von Paragrana,
der internationalen Zeitschrift für Historische Anthropologie, die Dietmar Kamper mitgründete und mitherausgab,
steht geschrieben, warum die Zeitschrift so heißt, wie sie heißt. Paragrana stehe sowohl für die Abkehr von der Frage nach
dem Kern von Geschichte, Leben und Mensch – „um an begangenen Wegen vorbei eine
Richtung zu finden, die nach rückwärts zu mehr Klarheit führt“, müsse man es
mit randständigen Kernchen, also mit kleinen Gedankenkörnchen versuchen. Paragrana steht aber auch für ein Denken des Pharmakons ein, abgeleitet von Paracelsus. Ging dieser doch
davon aus, daß „wiederholter Zusatz eines solchen Körnchens Gedanken und Aussagen
verfälscht, wie zuviel Einnahme die Arznei zum Gift verdirbt“, und deswegen
entschied, daß para, das griechische Wort für
„neben“, mit granum zu verschmelzen sei, „um
aufzuweisen, wie eine Substanz beschaffen ist, die nur richtig gebraucht werden
kann. So überschrieb Paracelsus seine grundsätzlichste Rechtfertigungsschrift:
‚Das Buch Paragranum’“.[4]
Die folgenden Sätze möchten nicht zu einem möglichen Kern des Kamperschen Denkens vordringen, sondern in randständiger
Art und Weise Kampers Denkbewegungen beschreiben. Vor allem Denkbewegungen der
letzten sechs Jahre, die sich in einer unvergleichlichen Radikalität folgender
antihegelianischen Diagnose und nietzscheanischen
Aufforderung verpflichtet fühlten:
„Man kann aber den Horizont nicht übersteigen. An der Grenze muß man verharren.
Und dann in den Abgrund der geöffneten Grenze hinabsteigen. Stürzen, nach allen
Seiten, auch nach oben.“[5]
– Gewiß ist diese Nietzsche-Paraphrase ihrerseits eine Paraphrase auf Hölderlins
‚Daß er lerne die Freiheit aufzubrechen, wohin er will’.[6]
Gewiß ist auch, daß Kamper auf, nicht an
der Grenze sich bewegte, auf der Grenze des Denkens von Leben und Tod.
2001 erschien Kampers letzte Monographie, Horizontwechsel.[7]
Mit diesem Buch hat er, so ist sein mit den Worten „Dritte Eröffnung“
übertiteltes Einleitungskapitel zu verstehen, das Sich-Öffnen
der Grenze erlebt, ist er in den Abgrund hinabgestiegen, „zum Nullpunkt der
Geschichte“, der ein „Dreh- und Angelpunkt“ ist. Er hat den Horizontwechsel vom
encore zum en corps,
also von der iterativen und permutativen Schließung
hin zu einer Körperöffentlichkeit des Denkens, vollzogen, und dabei das
dialektisch ausgebrannte und leergemachte Verhältnis zwischen ‚Überwindung des
Nihilismus’ und ‚Nihilismus der Überwindung’ verlassen. Er ist damit auf eine,
auf seine Grenze des Denkens und Lebens gestoßen – die Mauer des Unmöglichen,
wie er es nannte, der unmögliche Austausch. Und er ist, wie sonst nur noch
wenige Denker neben ihm (Nietzsche, Bataille, Lacan),
auf dieser Grenze geblieben, unermüdlich, ohne Rücksicht, beinahe wie unter
Zwang der Aufgabe verpflichtet, „sein eigenes Verschwinden zu zeigen“, das
Nichtwissen darzustellen, im KörperDenken Spuren von
Versöhnung ausfindig zu machen, der Lethe Freundschaft abzutrotzen.[8]
Dietmar Kamper ist das geworden, was er wohl schon
immer denkend war: Ein in den unsicheren Bereich zwischen zwei
Entscheidungsmöglichkeiten Fallender[9],
also: marginal, und ineins damit ein die Reflexion in
dritter Potenz einübender Denker.
Kamper war darin, so meine These, zutiefst modern.
Allerdings in einem weitläufigeren Sinne, als es der Ausdruck „Marginal Man“ –
ein Ausdruck der Intellektualität klassischer Moderne – implizierte. Denn
Kampers Marginalität war zugleich auch paradoxal und minoritär, war der Versuch, Bewußtsein, Wahrnehmung und
Traum als gebrochen Verkettetes zu denken – denn es sei nötig, so Kamper, Seite und Kehrseite von Existenz, Wissen und Gegenstand
zugleich wahrzunehmen und zu träumen, um ihnen noch begegnen zu können. Dies
eine Haltung, sogar eine normativ gesetzte, die weit über die im übrigen
neuartigen Grenzen der Moderne hinausgeht. Kamper
nahm die Moderne in ihrer inneren Bewegung wahr und ernst wie sonst kaum ein
Denker neben ihm. Denn er versuchte die Auflösung der Bedingungen des
Experiments Moderne im Vollzug selbst nicht mehr in einer Dialektik theoretisch
einzuholen, sondern sie in offenen, unverbundenen Enden gedanklich
nachzuvollziehen: und zwar unter dem intellektuell extrem anforderungsreichen
Vorsatz, für die Auflösungen von Kohärenzen, Identitäten und Bildern kein Bild,
keine Identität, keinen Begriff mehr zur Verfügung zu stellen[10]
– denn für das Enden der Bilder gibt es kein Bild. Dies denkend auszuhalten
gelingt Theorie nur, wenn sie weiterhin unter größten Mühen bestrebt ist, ästhetisch
zu werden.[11] Darin
folgte Kamper Adorno, wiederum wie kaum ein anderer
zeitgenössischer Theoretiker.
Der Ausdruck „Marginal Man“ stammt von dem Stadtsoziologen und Mitbegründer
der Chicagoer Schule, Robert E. Park.[12]
Er sollte zum Ausdruck bringen, daß sowohl das Leben in der modernen Großstadt
wie auch die Konfiguration einer modernen Subjektivität nicht mehr bestimmt
werden können in einer auf Geschlossenheit, auf Notwendigkeit, auf Einheit, Integration
und sogar auf Bestimmbarkeit beruhenden Denkungsart. Das Tun und Lassen, das
Verhalten und Handeln, das Denken und Wahrnehmen der Menschen lasse sich nicht
mehr ausmachen durch die relativ klare Bestimmung der Menschen in Raum, Zeit
und Sozialität, nicht mehr durch analytische Differenzierung resp. Diskrimination, in nuce: durch Grenzziehungen. Vielmehr ist
der Mensch der Großstadt und der Moderne (sich) selbst Grenze, (sich) selbst
Naht- resp. Schnittstelle, (sich) selbst Differentes geworden. Er sitzt auf der
Grenze, er ist die Mark, die Schnittstelle durchläuft ihn in Gänze –
psychologisch, soziologisch, humanökologisch. Er ist das von sich selbst
Getrennte und zugleich das daraus entspringende Bewußtsein geworden, nicht mehr
angeben zu können, von was er getrennt wurde – für Kamper
ein Indikator dafür, daß der Körper des modernen Menschen durch symbolische
Maschinen vernichtet wurde und das Symbolische kurz davor steht, vom Imaginären
gelöscht zu werden. Vom crucified zum marginal
man – das wäre die Kurzform einer Beschreibung, die zum Ausdruck bringen
soll, daß Kamper das Kreuzen mit dem Kreuz,
nicht des Kreuzes als Aufgabe seines Denkens verstand, gleichsam im
Wissen, daß die rationale Moderne mit ihrer maßgebenden Kreuzkreuzigung, dem
Unterscheiden („mark with a
cross“) durch Signifizierung,
der Faszination des Kreuzes bisher kaum standhalten konnte. D.h.: Auch die Moderne
versuchte, das Kreuz zu bewohnen, also den toten Raum ineins
zu schaffen und zu bewohnen – wie immer erfolglos und mörderisch dies zu
bewerkstelligen war. Und doch, so Kamper, besteht die
Möglichkeit, vom Kreuzweg weg und weiter zu gehen, daneben zu gehen,
exzentrisch zu werden.[13]
Diese Möglichkeit hat – am Vorabend des Faschismus – Helmuth Plessner philosophisch-anthropologisch[14]
im Begriff der exzentrischen Positionalität auf den Punkt zu bringen versucht.
Nach Plessner verläuft die Ausdrücklichkeit
menschlicher Lebensäußerungen über ganz bestimmte Modi des In-Beziehung-Setzens
und -Stehens mit „Allem“ (Plessner), nämlich über
indirekte Direktheit und vermittelte Unmittelbarkeit.
Beide stellen nach Plessner „keine Sinnlosigkeit,
keinen einfach an sich zugrunde gehenden Widerspruch dar, sondern einen Widerspruch,
der sich selbst auflöst, ohne dabei zu Null zu werden, einen Widerspruch, der
sinnvoll bleibt, auch wenn ihm die analytische Logik nicht folgen kann.“[15]
Der Radius dieser Aussagen bezieht sich nun nach Plessner
auf „das Lebendige“; man muß jetzt natürlich noch untersuchen, was diese
Beziehungsmodus-Struktur für die einzelnen positionalen
Stufen bedeutet. Plessner fährt fort mit der Frage:
„Man überlege sich aber, was es positional, unter dem
Aspekt des Lebewesens gesehen bedeutet, daß zwischen ihm und dem Umfeld eine
durch es selber vermittelte Beziehung existiert. Diese Beziehung kann
dem Lebewesen gar nicht anders als direkt, als unmittelbar erscheinen, weil es
»sich selber« noch verborgen ist. Es steht im Punkte der Vermittlung und bildet
sie. Um von ihr etwas zu merken, müßte es daneben stehen, ohne doch seine
vermittelnde Zentralität zu verlieren. Wie angegeben, ist diese exzentrische
Position im Menschen verwirklicht. [...] Daraus scheint mit zwingender
Notwendigkeit der Schluß zu folgen, daß der Mensch als exzentrisches Lebewesen
in zwei grund-verschiedenen Beziehungen zur Außenwelt, zur Fremdwelt überhaupt
steht, einer direkten »und« einer indirekten Beziehung. Dieser Schluß aber ist
falsch. Er hat eine entscheidende Prämisse vergessen, nämlich die Identität
desjenigen, der in diesem Zentrum der Vermittlung steht.“[16]
Parks Marginal Man als grundlegende Bestimmung der konstitutiven
Heterogenität modernen Lebens und Plessners exzentrische
Positionalität als grundlegende Bestimmung der konstitutiven Nichtabgeschlossenheit
des Menschen – beide Fassungen aus dem Jahre 1928 – stehen für soziologische
und philosophisch-anthropologische Großversuche, dem Drängen der eigenen Zeit
nach Obdach, nach metaphysischer Heimat, nach Grund und Identifikationsüberwölbungen
nicht nachzugeben, sondern im Gegenteil das Aus-den-Fugen-Geraten
moderner Lebenswelt und moderner Subjektivität als genuinen Eigenwert gegenwärtiger
Societas und Eigenwert des Anthropos
zu stärken.[17]
Nicht Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos
als eine quasi überhistorische Konfiguration des Menschen, die ihre
historischen Bedingungen unaufgeklärt ließ, sollte Referenz sein für eine
politisch-wissenschaftliche Menschenfassung, sondern vielmehr Rimbauds und Baudelaires
„Il faut être absolument
moderne“; also eine Fassung, die dem Menschen darin vertraute, aus Inkohärenzen, Widersprüchen, Unordnungen, Traditionsverlusten
und Gedächtnisverlusten der Dinge so etwas wie Selbstverständlichkeit, wie
Normalität zu destillieren. Kamper ging dem gleichsam
nach, im Sinne eines Richtungsgevierts für die Beschreibbarkeit nicht mehr gehaltener
Körper, nicht mehr stehender, also aufrechter Menschen. Aber er überstieg gleichsam
diese Bewegung der Moderne, indem er sie als rasende, vernichtende,
fluchtartige Bewegung, kurz: als unaufgeklärte Mobilisierung zu identifizieren
suchte. Er war darin – so meine tiefste Überzeugung – einer der letzten modernen
Denker ästhetisch-aisthesischer Provenienz.
Alle ihm widerfahrenen Verdächtigungen, sein Denken und Schreiben sei
Gegenaufklärung, Esoterik und schlicht unverantwortlich, gründen in zumeist
gewollter Uninformiertheit.[18]
Sein radikales Nichtgeltenlassen moderner,
großformatiger ‚Überwölbungen’, die lange, bis heute noch unter dem
Firmenschild des Fortschritts und der Emanzipation durch den Menschen
hindurchgehen; seine Unerbittlichkeit, in modernen Lebens- und Denkformen, die
rhetorisch oder verfahrenstechnisch eine „Zeit nach dem Opfer“ behaupten, mit
filigranem Gespür das ignorante Selbstopfer eines absoluten Geistes
festzustellen, der erst zur Ruhe kommt, wenn jeglicher „Stoffwechsel“
unbrauchbar, unnotwendig, unwichtig geworden sein wird: beides ist nur richtig
nachvollziehbar im Wissen darum, daß Kamper am
„Firmamentcharakter der Freundschaft“ festhalten konnte – Freundschaft
als die einzige soziohistorische Organisationsweise
der Menschen, mit der etwas anzufangen sei. Freilich meinte er eine gnadenlose
Freundschaft; und freilich ein niemals Ruhe stiftendes Netz der Freundschaft,
das Tonos spinnt.
Kampers nicht mehr dialektischer Überstieg der Moderne brachte ihn
gleichsam zu einem eigenartigen Verdacht, den er an dieser okzidentalen
Einmalerfindung des Individuums festzumachen suchte, nämlich zum Gedanken, „es
könnte im Gegenlauf zur offiziellen Geschichte der Moderne eine andere passiert
sein, die im wesentlichen verzehrend, verbrauchend, verwertend war, in der die
Menschen etwas vollzogen haben, was sie weder wollten noch wußten, eine Art
Selbstwiderlegung mit beinahe tödlichem Ausgang. So betrachtet, wäre das
Individuum [..] ein Programm, genauer: eine programmatische Skizze, die
faktisch eine andere Rolle gespielt hat als gedacht. So betrachtet erscheint
der Inbegriff der Moderne als ein Deckmantel, unter dem aufgehäuftes menschliches
Kapital in ebensolcher Weise verbraucht worden ist wie Bodenschätze der Erde
und die Reichtümer des Himmels.“[19]
Doch nicht nur „die Moderne“, sondern gleichsam auch die „Gegenhaltung“, ein
„Il faut être absolument traditionel“, wurde von Kamper
aufs Entschiedenste kritisiert. In einem Brief an Tirmisiu
Diallo vom 31.10.1998 heißt es demgemäß:
„Il faut être absolument traditionel. So heißt es richtig und nicht: Il faut absolument être ... Aber auch als richtiggestellter ist der Satz unsinnig, unerhört und unausgesprochen. Er kann nur am Punkt seines äußersten Gegenteils formuliert werden: Il faut être absolument moderne. Dieser Satz immerhin ist ausgesprochen worden, wenn auch als Kurzformel eines Scheiterns. An beiden Sätzen wird das Schicksal eines exponierten Menschheits-Zusammenhangs deutlich, der erst im nachhinein in seiner doppelseitigen Unzulänglichkeit rekonstruiert werden kann: es ist ebenso unmöglich gewesen, absolut modern zu werden wie es unmöglich war, absolut traditionell zu bleiben, es sei denn man hätte beides zugleich realisieren können. Das aber erscheint in einer Zeit, in der man weder modern noch traditionell sein kann, als noch unmöglicher. Es geht um ein hochgespanntes Sowohl-Alsauch, das dem aktuellen politischen Weder-Noch gewachsen ist.“
In einem kurzen abstract für die
Ringvorlesung Umzug ins Offene im Wintersemester 1999/2000 an der Freien
Universität Berlin schreibt Kamper unter der
Überschrift Verkehrung, Überschreitung, Steigerung, Umstülpung. Metaphern
gescheiterter Umzüge ins Offene:
„In der Weise einer nachgehenden Metaphern-Kritik der wichtigsten Akronyme des 20. Jahrhunderts sollen die Schwierigkeiten aufgezeigt werden, die derzeit bei den Wegen aus der Enge, aus den Sackgassen, aus der Aporie auftauchen können. Die Metaphern korrespondieren überraschenderweise mit der ‚Stellung des Menschen im Kosmos’ (Max Scheler), mit der Stellung eines isolierten Körpers im Raum. Sie reformulieren eine körperliche Grundordnung, die nicht mehr gehalten werden kann, nämlich (in der genannten Reihenfolge): links/rechts; hinten/vorne; unten/oben; außen/innen. Vierfaches Thema ist also: 1. die Verkehrung von links und rechts mit all ihren inzwischen stattgefundenen Wenden und Kehren, 2. die Überschreitung von Grenzen, an denen sich unterderhand der Fortschritt in Rückschritt verwandelte, 3. die Steigerung und übertriebene Steigerung nach oben, die den Menschen zum Fall machte und immer wieder Abstürze nach sich zog, 4. die Umstülpung der Haut, bei der einem das Fell über die Ohren gezogen wurde, nach dem Motto: ‚your outside is in, your inside is out’“.[20]
Für Kamper ist die aus der französischen Revolution
herrührende und in der klassischen Moderne behauptete Möglichkeit, eine neue Gesellschaft
mit neuen Subjekten herstellen zu können, keine Zäsur mit der bis dato stattgehabten
Gesellschafts- und Geistesgeschichte, sondern vielmehr deren Forcierung, deren
Radikalisierung, deren Temporalisierung. Er nannte diese moderne Etappe der
Geschichts-, Körper- und Sterblichkeitsvernichtung auch den Zustand des „Ultra“[21]:
ein Zustand der Indifferenz, der Gleichgültigkeit, der schlechten Unendlichkeit,
der bösen Ewigkeit, der versiegelten Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit.
„Hölderlin“, so Kamper, „ist um den Preis des
Wahnsinns der Erfahrung des Abgrunds treu geblieben. Bei Hegel steht an der
Stelle seines Verrücktwerdens das System.“[22]
– Es entschied sich für Dietmar Kamper weder das eine
noch das andere. Doch dafür das unermüdliche Suchen einer dritten, schließlich
einer exzentrisch paradoxalen n-ten
Position, einer Idiosynkrasie, einer nichtdualistischen Hermetik,
letztlich: eines KörperDenkens, um auf der Grenze,
die er selbst war, weiter denken zu können, ohne in die Verrücktheit des
Wahnsinns (die Zerstreuung ins Nichtganze) oder des Denksystems (die Faschisierung durch ein Ganzes/Bild) zu geraten.[23]
„Allen Theorien liegen Erzählungen zugrunde, allen Erzählungen Szenen, allen Szenen Figuren, allen Figuren Bilder, allen Bildern Verletzungen“[24]
„Seit Karlsruhe letzten Sommer [Sommer 1998; B.T.] schwebt mir ein KörperDenken vor, daß die Manchfaltigkeit
auch bei sich selbst nicht mehr abweist. ‚Einheit, Zweiheit, Einheit’ – das ist
als Modell der seichten, dummen Identität so sehr verbraucht, daß wir nun weiter
als bis Drei zählen müssen.“[25]
Dieses „weiter“, dieses Hinauskommenwollen
über Differenz und Indifferenz, über die Identität von Differenz und Identität
(Hegel) auf der einen und Differenz von Differenz und Identität auf der anderen
Seite (Luhmann, Derrida), startete Kamper beinahe
flüchtig von der Einsicht Deleuzes ausgehend, daß es
Manches und Faltiges, also Männliches und Weibliches gebe. Diese Manchfaltigkeit (die heutzutage, wenn ich es recht sehe,
unter dem alten, wenngleich neu aufgelegten Begriff „Multitude“
von Negri/ Harth kursiert) bildete die letzte von
fünf frühen Bestimmungen dessen, was Kamper KörperDenken nannte:
„KörperDenken heißt zunächst:
Ins Souterrain der Bilder einsteigen.
Die selbstgemachten Ungeheuer wahrnehmen.
Fernstenliebe (Telepathie) der auch in
der Nähe entfernten Körper.
Das Tote als Totes festhalten und die modische Zombie-Existenz nicht annehmen.
Es kann und muß aufs Spiel gesetzt werden: das Leben vor und nach dem
Tod. In Rücksicht auf die einbekannte Sterblichkeit. In der Linie des Feuers.
Im Abbruch des Ewigen und des Universums. Denn nur die lebendige sterbliche
Zeit räumt den Raum zum Leben ein.
KörperDenken heißt fernerhin:
Selbstvergessenheit. Das ist nicht Selbstbehauptung, nicht Selbstverzicht.
Das ist jenseits von Egoismus und Altruismus. Statt Einheit: Manchfaltigkeit. Das ist zusammengesetzt aus „manches“ und
Falten, aus Männlichem und Weiblichem. Verzicht auf Herrschaft und auf Knechtschaft,
Ausstieg aus der Dialektik von Siegern und Verlierern, aber von der Seite der
Verlierer aus.“[26]
Im Buch Horizontwechsel findet man die Manchfaltigkeit
dann wieder: als eine von fünf Essenzen des Kamperschen
pathischen Pentagramms in Abwandlung der Quintessenz
von Viktor von Weiszäckers „Pathosophie“[27],
ein für Kampers Leidenschaftsbegriff enorm wichtiges Buch. Neben den
Ausführungen zu den Essenzen Leiden, Hilfsverben, Unterwegs und Logik steht
unter Manchfaltigkeit dies:
„Die Fünfzahl liegt weit jenseits des Monotheismus der Vernunft, weit jenseits der Binarität des gesunden Menschenverstandes, jenseits auch noch der Trinität der Spekulation und der Dialektik. Man muß weiter als bis drei zählen können, um eine Ahnung von der Vielfalt der Dinge zu bekommen. Das grenzt an Zauberei. Weshalb das Pentagramm auch Drudenfuß heißt. Das Muster lautet: Es gibt Manches und es gibt Falten in unregelmäßiger Verschränkung.“[28]
Kamper eröffnete diese neue Denkbewegung in der
‚Verschränkungsfigur’ namens Idiosynkrasie als eskalierte neue Unmöglichkeit
auf seinem Weg von der Wissenschaft zur Leidenschaft als Wissenschaft. (Und
gleich darauf, so seine Selbsteinschätzung, widerfuhr sie ihm auch persönlich.)[29]
Nach dem ‚Einklinken’ von Sinnsystemen, Ideologien und Diskursen in die
filigranen Zwangszirkularitäten moderner
Kontrollgesellschaften erscheinen jetzt „Idiosynkrasien als eigentümliche Mischungen
von Subjekt und Objekt, als Einfaltungen der Welt in den Körper und des Körpers
in die Welt“, so Kamper.[30]
Diese Sichtweise Kampers hat seinen Grund. Er liegt in der zumindest
publizistisch abgeschlossenen eigenen intellektuellen Bewegung eines Abgangs
vom Kreuz[31],
sprich: in der für Kamper fundamentalen Diagnose des
unmöglichen Austauschs[32]
zwischen Mensch und Gott in den Attributionsformationen
körperlos (Mensch) und tot (Gott). Dies hat enorme Konsequenzen für das Denken
selbst, das, wenn es dem Letalen Fassung zu geben vermag, kein Lückenbüßer mehr
sein kann, sondern sich selbst in „absoluter Zerissenheit“,
in einer Chaosmose zu begegnen hat, die weder auf
Ordnung noch auf Unordnung zu setzen erlaubt. Hier ging Kamper
offensichtlich vom ‚Konzept’ Hegels aus, aber zugleich weit darüber hinaus.
Wenn man den Begriff Chaos
etwas weniger als 200 Jahre in die Begriffsgeschichte zurückschickte – auf der
Suche nach einer nicht ganz abwegigen Quelle seiner –, so könnte man fündig
werden in Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807), genauer:
in diesen für mich weiterhin ungeheuerlichen Sätzen Hegels, die das Verhältnis
von Leben, Tod und Denkenskraft innerhalb der Negativität des Analysierens
behandeln. Die „ungeheure Macht des Negativen“, „die Energie des Denkens“, das
„Leben des Geistes“: das sind Hegels Umschreibungen für eine aufzubringende
Kraft, um das durch Analyse Getötete festzuhalten, um im Tode selbst das Leben
zu erhalten. Er umschrieb damit das vollständig nüchtern gewordene „order from noise“ der Kybernetik, allerdings
noch mit Angabe des Preises (den Kafka dann im „Schweigen der Sirenen“ exakt
benannte). Der gesamte Zusammenhang, in Hegels Worten:
„Eine Vorstellung in ihre
ursprünglichen Elemente auseinanderlegen, ist das Zurückgehen zu ihren
Momenten, die wenigstens nicht die Form der vorgefundenen Vorstellung haben,
sondern das unmittelbare Eigentum des Selbst ausmachen. Diese Analyse kommt
zwar nur zu Gedanken, welche selbst bekannte, feste und ruhende
Bestimmungen sind. Aber ein wesentliches Moment ist dies Geschiedene,
Unwirkliche selbst [...]. [...] Aber daß das von seinem Umfange getrennte Akzidentelle
als solches, das Gebundene und nur in seinem Zusammenhange mit anderem
Wirklichen ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die
ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs.
Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste,
und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. [...] Aber nicht
das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt,
sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er
gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst
findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, [..] sondern er ist diese
Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.
Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“[33]
Wenn man gewillt ist, eine Art begriffstheoretische Genealogie ‚des
Chaos’ auszumachen, dann, so meine Überzeugung, könnte man Chaos im emphatischen
Sinne verstehen als die sich heutzutage von bewußtseinsphilosophischen Rahmungen
unabhängig gemachte (Zauber)Kraft, die das Leben im Tode erhält; allerdings um
den Preis, nicht mehr befähigt zu sein, das Negative in das Sein umzukehren –
es bleibt nun beim Werden (um es paradox zu formulieren)[34],
also bei dem, was als letzte Aufschreiber Deleuze und Guattari hinterlassen
haben als möglichen ‚dritten Weg’. Kampers Umgang mit dem Chaos, verstanden als
„stehender Sturm“ eines bis ins Unerträgliche blockierten Stoffwechsels, könnte
als „dieser Rest“ verstanden werden, der formalisierte Zeichensysteme resp.
symbolische, technische und mathematische Maschinen darin scheitern läßt, in
der Suche nach Negentropie, nach Ordnung, nach Regelmäßigem
und Regelgemäßem eine von der Realität nicht mehr störbare Realität zu konstruieren.
Chaos stünde dann dafür ein, daß trotz der immer rigideren Vergesellschaftung extremer Materialferne der wissenschaftlichen Produkte
der Analyse des Materials das Produkt weiterhin noch aus Material besteht, und
daß es weiterhin noch Material gibt jenseits des Produkts (der Analyse, der
Abstraktion, der Synthese). – Das könnte denkbar sein, versteht man Chaos im emphatischen
Sinne. Versucht man jedoch, wie Kamper Chaos exzentrisch
paradox zu verstehen, dann stellt sich diese Hegelsche Gestalt der
Lebenserhaltung im Tode nicht mehr ein. Chaos als basale
Voraussetzung für Mischungsverhältnisse (von Leben und Logik), wie auch Körper
als basale Gestaltung wirklich existierender
Mischungen (verschiedenster Daseinsbereichsprogramme) hätten aufgehört,
Voraussetzung und Gestaltung zu sein. Waren Idiosynkrasien im Sinne
körperlicher Chaosmose sozialphilosophisch und
soziologisch deutbar als Gestaltungen der existierenden Wahrheit der Materie,
daß der Geist nur körperlich zu seiner Wahrheit kommt – als explosives Gemisch,
das den entmischenden Geist einlöst in Gestalt einer Auflösung der Analysierbarkeit
von Welt als Produkt der Analyse –, so sind nun vom Chaos im exzentrisch paradoxen
Sinne keinerlei Ein-Lösungen mehr zu erwarten.
Und dennoch bestand Kamper trotz aller Abschreibungen
von Hoffnung, von Heil, von Synthese oder Ewigkeit auf einen Begriff der
Rettung. Allerdings nur und ausschließlich Rettung der diskontinuierlichen
Vergangenheit der Verlierer. Der zentrale, beinahe mandatierte
Verlierer der Geschichte des abendländischen Menschen ist für Kamper der Körper, und zwar in allen Derivationen: als
Leib, als Körperlichkeit, als Metapher, als Berührung, als physikalischer
Stoff, als Stimmung. Die Bedingungen einer möglichen Rettung der Vergangenheit
der Verlierer, die nur ihre Körper haben/ sind (während Sieger Gründe
besitzen), setzt Kamper so an: „Nur die Vergangenheit
kann gerettet werden, und zwar nur blitzartig, wenn das Alphabet eines KörperDenkens auftaucht und erste Sätze einer Sprache des
Menschengeschlechts in schneidender Aktualität formuliert werden können.“[35]
Zu Beginn gemeinsam mit Hans Ulrich Reck versuchte Kamper
in Idiosynkrasien erste Ansätze eines möglichen Alphabets des körperlichen KörperDenkens aufzufinden und mit einem geistigen KörperDenken zu verbinden; notwendigerweise paradox durch
die Figur des unmöglichen Austauschs und der unmöglichen Signifizierung.
Letztere muß als eindeutige Konsequenz seines Abgangs vom Kreuz
verstanden werden: Denn seine Abstraktions- und also Imaginationskritik ging
zwar von der Überzeugung aus, daß die Kreuzigung des Kreuzes – so verstand er
die abendländische Abstraktionsleistung – nur den toten Gott wiederholte (und
eben nicht wieder-holte). Aber für ihn war gleichsam evident,
daß nicht das Kreuz selbst das Zeichen sei: das Zeichen ist das Kreuz. „Abgang
vom Kreuz heißt also, [...] die impliziten und expliziten Grenzen der Zeichenwelt
zu bezeichnen, aber im Namen der Materialität, im Namen des Holzes“[36],
in Namen, so kann man hinzufügen, des idiosynkratischen
Körpers.
Idiosynkrasie als schneidende Aktualität[37],
als eigentümliche Mischungen von Subjekt und Objekt, als nicht mehr
differenztheoretisch beschreibbare Einfaltung der Welt in den Körper und des Körpers
in die Welt – diese Idiosynkrasie-Bestimmung Kampers wird dann kurz darauf in
die Bestimmung einer dritten Stufe der conditio humana
münden, deren ersten beiden Stufen Kamper epigrammatisch
so zu fassen suchte:
1. Tod des Körpers, Leben der
Sprache ® Zivilisationsgeschichte: Abstraktionsprozeß;
Differenz von Realität und Symbol.
2. Tod der Sprache ® Posthistoire:
Übergang von der Phantasie zur Maschine; Simulation.
Die dritte wird lauten:
3. Exzentrische Paradoxie ® Generative Programmatik: Entdifferenzierung
von Tod und Leben.
Mit Idiosynkrasien wird der stillgestellte Austausch zwischen dem Leben
und dem Tod eigentümlich figürlich und gleichsam dezidiert körperlich und
zeitlich zugleich – eigentümlich figürlich, weil Idiosynkrasien nicht binärer
„Natur“ sind, also nicht bestimmbar sind als entweder dem Leben oder dem Tod
angehörige Weisen des Mit-Welt-Seins; körperlich, weil sie in ihrer
Ausdrücklichkeit weit über die Verstricktheit und Komplexität hinausgehen, die
dem Unbewußten eigentümlich ist, das noch weitgehend mit dem Bewußt-Sein referenziert wird; zeitlich, weil die moderne Arbeit an der
Abschaffung des Todes mittlerweile Effekte zeitigt in evolutionär so
tiefliegenden „Lebensfunktionen“ wie dem biologischen Immunsystem, das in
Jahrmillionen entstanden und quasi-automatisch den unaufhörlichen Verkehr
zwischen viablen und letalen Ereignissen kontrolliert(e).
Mit Idiosynkrasien, besonders der Form der autoaggressiven Immunität, erreicht
die Aushaltbarkeit des Unerträglichen eine entscheidende
Grenze; denn ihr ist nicht mehr ideologisch, nicht mehr symbolisch, nicht mehr
diskursiv, nicht mehr psychoanalytisch und auch nicht mehr sozial beizukommen.
Mit ihnen müßte eine Korrespondenz geführt werden, die in einer Sprache
des Lebens passierte, und nicht mehr nur mit einer Sprache innerhalb des
Lebens. Folgte man hier einer einfachen Dialektik, so wären die Phantasmen der biotechnologischen Großforschung betreffs
des Findenkönnens der Sprache des Lebens (Genetik)
quasi idiosynkratische Reaktionen auf den gegenwärtig
erreichten Stand des Versiegens von Korrespondenzen zwischen Leben und Tod.
Idiosynkrasien radikalisieren also den erreichten Stand der
gesellschaftlichen Vermittlung von Unmöglichkeit des Austauschs, und zwar
theatralisch. „Das Theater“, so Kamper, „hatte immer
mit der Darstellung des Unerträglichen zu tun. Der zerstückelte Körper des
Gottes Dionysos war eine Verständnisfolie für den Skandal eines sterblichen,
weil individuellen Lebens, das von sich weiß. Erst mit der Verhärtung [..]
durch lebenslängliche Identitätskonzepte wuchs das Unbewußte an und hat der
Körper ersatzweise begonnen, ‚Theater zu spielen’. [...] Erst die Verengung des
Bewußtseins in einem frame of reference hat überhaupt den Grund dafür abgegeben, daß
es ein Unbewußtes gibt, das nun seinerseits Wirkungen en masse produziert, in
die der Körper einbezogen ist.“[38]
Die Konsequenzen dieser von Kamper verstandenen
Katastrophe des Sinns, die mit der idiosynkratischen Theatralität in den Körper einbricht, sind fundamental,
erzwingen sie doch einen Abschied von „der Kunst“ als letzter Ort, an dem
menschliche Arbeit noch am Leben orientiert ist (und nicht am Tod, an der
Sprache). Kamper, abschließend: „Die Kunst wäre [..]
ein gnadenloser Kampf um die absolute Sinnlosigkeit, wie sie in der
Idiosynkrasie probeweise inszeniert und in den auto-aggressiven Momenten eines
verzweifelten Immunsystems unentwegt zur Aufführung gelangt. [...] Die symbolische
Ordnung wird diabolisch unterlaufen und die Selbstfremdheit fungiert als Kobold
in einem Spiel, dessen Ausgang längst ungewiß ist wie das Leben.“[39]
Man kann hier die Stelle ausmachen, an der Dietmar Kamper
die moderne Ästhetik verläßt, um ihr Ansinnen weiter verfolgen zu können; an
der er die philosophisch anthropologische Grundierung von Offenheit des
Menschen verläßt, um ebendiese Offenheit weiter denken zu können. Wenn nämlich
die Ästhetik am Rande der Moderne hauptsächlich darin ihr Sujet hatte, in einer
Mimesis des Todes die tödliche Strategie des Individuums zu wiederholen in der
Hoffnung, die Totstellreflexe durch Reflexionen lösen zu können, so konstatiert
diesbezüglich Kamper: „Meist aber kommt nur eine
Dehnung der Katastrophe zustande, eine mühselige Verlangsamung der Zeit.“[40]
Ästhetik, so sie nicht das Rätsel bedient, wie sich das Absterben des Körpers
durch tote Bilder vollzieht, und so sie nicht als letzter Gipfel des Mimesis
sich in Gänze auf die Seite der Verwertung des Zerfalls stellt, wird in dieser
Sichtweise beinahe unmöglich, so sie nicht im Bilde zu sein versucht.
Anders verhält es sich mit dem, was Kamper
die sozioakustische Aisthesis
nannte. Wenn es nur auf der Rückseite der Bilder Körper gibt, und zwar immer
nur fragmentarische, zerstückelte, fraktale Körper,
und also Bilderlosigkeit die Bedingung dafür ist, der
Körper gewahr werden zu können, dann braucht es die Bestimmung eines
Ortes möglicher Begegnung, also ein aktives Verlieren der Orientierungsfunktion
des Auges und der Rahmensetzung durch Optik, und die erneute Einsetzung einer
sozialen Akustik als die gesellschaftshistorisch primordiale
Dimension der Organisation sozialer Wahrnehmung. Den Idiosynkrasien der Körper
ist nur mit einer Horizonterweiterung sozialer Aushaltbarkeit
von Dissens und Dissonanzen beizukommen: Hörend, stimmend, „im“ Melos, nicht im
Logos.[41]
Mit dieser Fassung einer sozio-akustischen Aisthesis als Fortgang einer zumeist sozio-optischen
Ästhetik hielt Kamper an der zentralen modernen
Auffassung von Kunst fest, wie sie Adorno weiterhin gültig umschrieben hat: „Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den
Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des
Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität
gegen sie.“[42]
„Der Versuch, die Welt
durch Zeichen eindeutig zu machen, war und ist eine Weise der Weltvernichtung.
Das hat nicht nur die Definitionen, sondern auch die Metaphern diskreditiert.
Einzig Chiasma-Sätze halten noch: je mehr Ordnung, desto
mehr Unordnung. [..]
Es trifft allerdings nicht zu, daß sich
das Denken – wie behauptet wird – in Paradoxien
und Chiasmata erschöpft. Das Scheitern der Signifikation ist kein endgültiges Desaster, sondern ein
anderer Anfang“[43]
Die Annahme, daß das Verhältnis zwischen der Anthropologie des Menschen
und der Soziologie seines In-sozialen-Beziehungen-Seins
weiterhin experimentell ist, konnte Kamper nur noch
in einer radikalisierten ex negativo-Denkbewegung
verfolgen, gleichsam exzentrisch. Sprich: Es gibt keinerlei Möglichkeit mehr,
dieses Verhältnis zu beobachten, zu planen, zu theoretisieren, zu
philosophieren. Das Verhältnis hat sich in etwas zurückgezogen, das nicht mehr
innen ist; das Verhältnis hat sich in etwas ‚hineinevakuiert’, das nicht mehr
außen ist. Die Vermittlung, so könnte man Adorno paraphrasieren, die so total
geworden ist, daß sie als das Unmittelbarste erscheint, macht eine erneute Modelung
durch: sie erscheint nun nicht mehr; und sie ist nur noch als Nicht-Mitteilung
und als Nicht-Mitteilung zu denken (dies aber nur, weil der gesellschaftliche
Vorgang der Teilung einer geworden ist, so die These, für den es bis jetzt
keine Sprache gibt).[44]
Vereinfacht ließe sich sagen, daß die Erfindung des Menschen durch die
Wissenschaften seit Mitte des 18. Jahrhunderts (Foucault) am Menschen Dispositive aufmachte, in denen vielfältigste, meist grausame
Experimente passierten. Diese Experimente in den Dispositiven
am Menschen haben palimpsestische Struktur und werden
von den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften bearbeitet (Schriftkultur im
weitesten Sinne). Zugleich aber hört das Experimentieren in den bekannten Dispositiv-Formen am Menschen auf; die Zeit der Lektion,
der Bildung, des Ansteuerns des Sozialwesens „Mensch“ läuft aus und wird
abgelöst von Dispositiven und Experimenten, die
dasjenige ansteuern, das schon vor der Erfindung des Menschen da war: seine kreaturale Dimension. Mithilfe avanciertester Techniken der
Moderne beginnt eine vormoderne Arbeit am Menschen. Übrig bleiben Menschen, die
mit ihren unterschiedlichsten geschichtlich-gesellschaftlichen Hüllen (animal rationale, symbolische Ordnung, Kommunikation) wie
lose Fäden im Geschichtsvakuum ‚hängen’. Für diesen „Zustand“ der gegenwärtigen
Verfaßtheit von Mensch und Gesellschaft steht der Begriff exzentrische Paradoxie[45]
ein, den Dietmar zusammen mit mir bedenkbar machen
wollte.
Exzentrische Paradoxie würde dafür einstehen,
daß Menschen einen Zeitraum bezogen haben, in dem sie zugleich anwesend
abwesend und abwesend abwesend sind – das bedeutet zumindest
eine Verrückung des Seins; in dem sie zugleich im Innen außen und im Außen außen sind – das bedeutet zumindest eine Verrückung des
Sozialen; in dem sie schließlich im Essentiellen nur noch mit entweder
möglichen Unmöglichkeiten oder unmöglichen Unmöglichkeiten zu tun haben – und
das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sinns. Diese Unmöglichkeiten, die
sich an die Begriffe Leben, Tod und Zeit heften, sind: Die Unmöglichkeit, den
Tod zu töten; die Unmöglichkeit, das Leben zu töten; die Unmöglichkeit, die
Zeit zu töten. Innerhalb der fortgeschrittenen historischen Formationen der Menschengattung
hat sich die melancholische Einsicht in die Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit,
den Tod zu töten, eingestellt; die Grenze ist hier, Sterblichkeiten auszurotten;
hat sich die aggressive Einsicht in die Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit, das
Leben zu töten, eingestellt; die Grenze ist hier, Lebendigkeiten zu töten.
Übrig geblieben ist die momentan statthabende Zeit, die noch versucht, an die
Grenze der Tatsächlichkeit der Unmöglichkeit, die Zeit zu töten, heranzukommen.
Diesen Zustand der Menschen und der Körper versuchte Dietmar Kamper in seiner letzten großen Denkbewegung historisch
anthropologisch in den Dimensionen des Schicksals, des Zufalls und der Gefahr
auszuloten, dabei unterstützt und inspiriert durch medienphilosophische
Überlegungen Flussers zum „Projekt Menschwerdung“.[46]
Ausgangspunkt für beide ist die Abkehr von Unsterblichkeitssehnsüchten, die
sich massiv Realität verschafften, hin zu einer Wirklichkeits(er)zeugung, die von Sterblichkeit ausgeht. Die operative
Dimension dieser (Er)Zeugung verhält sich so, wie George Spencer Brown es zu
beschreiben suchte: „’Wir’ erzeugen eine Existenz, indem wir die Elemente einer
dreifachen Identität auseinandernehmen. Die Existenz erlischt, wenn wir sie
wieder zusammenfügen. [..] wir können kein Ding produzieren, ohne Koproduktion
dessen, was es nicht ist, und jede Dualität impliziert Triplizität:
Was das Ding ist, was es nicht ist, und die Grenze dazwischen“[47].
Spencer Brown hat sich hier für das Nichterlöschen (eines Nicht-Seins) entschieden
und stellt durch seine tiefe Versenkung der sich ergebenden konstruierten
nichtgegebenen Weltexistenz in die
Form des bezeichnenden und unterscheidenden Weltkontaktes auch klar, daß es anders
gar nicht gehen kann: „Either you
can see an appearent universe by being selectively
blind, or you can see it
all equally in which case it must
disappear and so must you. Since both in reality are
equally possible, but not more than
possible (the laws of form are not more
than the laws of the possible), there is really nothing to choose between
them“.[48]
Daß man also zwei Zustände definieren muß, um irgendetwas
zu kennzeichnen, und daß man drei Elemente erschaffen muß, um diese zwei Zustände
definieren zu können; und daß nichts davon existiert im Sinne einer beobachterunabhängigen
Realität: All das läßt die ‚Konzeption’ von Spencer Brown wie eine ‚epistemisch’ totalausgeweitete Fassung des Konzepts
„Bezeichnetes/ Bezeichnendes/ Zeichen“ erscheinen, eingepaßt in den Motorteil
eines Sinnbegriffs, der das aktual Mögliche und Passierende immer
innerhalb des potentiell Möglichen und Passierenden faßt. Sollte es
einmal anders sein, so Spencer Brown, also so, daß eine Erfahrung im ersten
gleichzeitig schon auch beim zweiten, in zweien gleichzeitig schon auch beim
dritten, in dreien gleichzeitig schon beim vierten ‚ist’ usw., also im aktualen
Passieren gleichzeitig auch schon im potentiellen sich aufhält, oder so, daß
die Verwendung eines Zeichens zur Bezeichnung eines Bezeichneten uno actu diese Unterscheidungen
aufhebt durch die Verwendung selbst: Sollte es also einmal so oder (so) anders
sein, dann spreche man vom Tod.
Spencer Brown versteht also unter Todeserfahrung, beide Seiten jeder Unterscheidung
gleich(zeitig) zu sehen. „Dies ist definitionsgemäß absolutes Wissen oder
Allwissenheit, mathematisch unmöglich, außer gleichgesetzt mit keinerlei Wissen
überhaupt“.[49]
Diese ‚Erfahrung’ setze dann ein, wenn die Beschränktheit unserer Sinne, wenn
unser Einschluß in die Körperlichkeit zuletzt ganz verloren gehe (ebenda). Doch
gerade die Körperlichkeit ist es, die Verbindung hält zum Wunsch nach Unsterblichkeit.
Denn: „Indem wir unsere physischen Körper schützen, schützen wir in identischer
Weise das Universum, welches jeder von ihnen erschafft. Unser Wunsch nach
Unsterblichkeit ist ein Wunsch, daß sich dieses Universum niemals verändern
möge [..]“ (ebenda). Spencer Brown wünscht sich keine Unsterblichkeit,
entfaltet diesen Wunsch jedoch nicht von der Körperseite her, sondern von der
des Wissens („selective blindness“).
Der Wunsch nach totalem Wissen im oben beschriebenen Sinne entspringe zwar dem
Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit/ Unveränderlichkeit; doch wenn man vom
Wissen her entdecken kann, daß das „Wissen über nichts, welches eines ist, das
das Wissen über die Form entdeckt“ (ebenda), das Potential ist für alle weitere Existenz, dann kann man
zumindest wissen, daß es nicht wünschenswert, nicht möglich, daß es unmöglich
ist, der Unsterblichkeit näher zu kommen – es sei denn, man hat Einlaß gefunden
ins Jetzt, in die Nulldimension: denn jetzt ist immer, auf immer und ewig.
Dieser kurz skizzierte Einsichtsrahmen steht nun nicht einer mathematischen
Verkörperung allein zur Verfügung, sondern eben auch den Vorhaben Flussers und Kampers, die als zur Zeit instruktivste
Fassungen zur Frage angesehen werden können, wie ein neues Verhältnis zwischen
Leben, Tod und Sein gedacht werden kann. Während Flussers
‚Modell’ sich eher projektiv, und das heißt: auf Information
als Verkörperungsmedium hin orientiert[50],
ist die Flussers Konzept aufnehmende und strukturierende
theoretische Fassung Kamper eher retrospektiv, und
das heißt: auf Information als ‚Entkörperungsform’
hin orientiert. Sie setzt sich zum Ziel, den Preis, das Leid, die Zerstörungen
aufzuweisen, die sich durch operationalisierte
Unsterblichkeitsapproximation ergeben haben.[51]
Beiden geht es darum, erste Anzeichen einer gesellschaftlichen Wirklichkeit
zu erfassen, die nicht mehr ontozentrisch erfaßt werden
kann, auch nicht mehr ontomorph und ontophil; die vielmehr beginnt, sich aus den Unterscheidungen
Leben/ Tod, innen/ außen, integriert/ exkludiert,
reflektierbar/ unreflektierbar zu lösen. Und damit hineinragt in eine
(Nicht-)Dimension, die wahrscheinlich weder von Seiten der Ontik,
noch von den Attributen der Philie oder Phobie, noch
von Seiten der Kategorien der Information, des Körpers, des Lebendigen oder des
Toten bedenkbar ist. Aber wie dann? Kamper erkannte in den nachgelassenen Schriften Flussers eine Möglichkeit, von der Nulldimensionalität der
gegenwärtigen Zeit denkend den Rückschritt in die Nichtdimensionalität des
leiblichen Zeit-Raumes zu probieren. Er ging dabei vom „anthropologischen
Viereck“ Flussers aus.
„Die langsame und
mühselige kulturelle Entwicklung der Menschheit läßt sich als ein schrittweises Zurückweichen von der Lebenswelt, als
schrittweise zunehmende Entfremdung betrachten. Mit dem ersten Schritt zurück
aus der Lebenswelt – aus dem Kontext der den Menschen angehenden Dinge – werden
wir zu Behandlern, und die daraus folgende Praxis ist
die Erzeugung von Instrumenten. Mit dem zweiten Schritt zurück – diesmal aus
der Dreidimensionalität der behandelten Dinge – werden wir zu Beobachtern, und
die daraus folgende Praxis ist das Bildermachen. Mit dem dritten Schritt zurück
– diesmal aus der Zweidimensionalität der Imagination – werden wir zu Beschreibern, und die daraus folgende Praxis ist das
Erzeugen von Texten. Mit dem vierten Schritt zurück – diesmal aus der Eindimensionalität
der alphabetischen Schrift – werden wir zu Kalkulierern, und die daraus
folgende Praxis ist die moderne Technik. Dieser vierte Schritt in Richtung
totaler Abstraktion – in Richtung der Nulldimensionalität – ist mit der Renaissance
geleistet worden, und gegenwärtig ist er vollzogen. Ein weiterer Schritt zurück
in die Abstraktion ist nicht tunlich: Weniger als nichts kann es nicht geben. Daher
wenden wir sozusagen um 180 Grad und beginnen, ebenso langsam und mühselig, in
Richtung des Konkreten (der Lebenswelt) zurückzuschreiten. Daher die neue
Praxis des Komputierens und Projizierens von
Punktelementen zu Linien, Flächen, Körpern und uns angehenden Körpern.“[52]
Kamper übernahm dieses Geviert, nicht ohne eine
fünfte Nichtdimension hinzuzufügen, um gleichsam dem pathischen Pentagramm von Müssen, Dürfen, Sollen,
Können, Wollen zu korrespondieren.
Sein Schema der
Körper-Abstraktionen stellte sich so dar:
nicht-dimensional
drei-dimensional
zwei-dimensional
ein-dimensional
null-dimensional
(LEIB) KÖRPER BILD
SCHRIFT (UN)ZEIT
Spüren Hören/Sprechen Sehen Schreiben/Lesen Rechnen
Haut Ohr/Stimme Auge
Auge/Hand Gehirn
ZEIT-RAUM RAUM FLÄCHE
LINIE PUNKT
Die Schwierigkeit beim
„Rückschreiten aus Rückschritten“, also von der Nulldimension rückschreiten bis
zur Nichtdimension, bestehen nach Kamper darin, den
Fall des Menschen von der Drei, vom Körper in die Null, ins nichts besser zu
verstehen, vor allem seine Zwangsläufigkeit, und darin, die menschliche Eigenmacht
als infantiles Syndrom zu denunzieren und zu erklären, wie es dazu kommt, daß
der homo sapiens sapiens auf die von ihm stets neu
erzeugte Unerträglichkeit der Welt und auf sein eigenes Elend darin, auf seine
„selbstverschuldete Abgerissenheit“ (Günther Anders) immer nur mit einem neuen
Wahn seiner vermeintlichen Gedankenallmacht geantwortet hat.[53]
Die Hoffnung dieser
unterstellen Rückschrittlichkeit der Menschwerdung liegt hingegen darin zu,
davon auszugehen, daß Ende und Zweck der menschlichen Geistestätigkeit auf
Erden nicht in der endgültigen Vernichtung des Stoffs, der Materie, des Körpers
zu sich kommen. Die Moderne, die Neuzeit, die Geschichte, so paraphrasiert Kamper Flusser, müßten einen
anderen Sinn haben als den, im Bewußtsein des absoluten Wissens immerzu das radikale
kleingeschriebene nichts ins Feld zu führen. Das wäre nichts als ein unaufklärbarer
Wahn, eine selbstverordnete Dummheit von höchsten Graden, welche die Freiheit
mit der Vernichtung verwechselt. „Unabhängigkeit ist Wahnsinn,“ schreibt Flusser, selbst dann, wenn sich daraus eine massenhafte
‚Realität‘ ergeben habe, die ihre Massenhaftigkeit mit der Gewißheit verknüpft,
sich nicht irren zu können.
Mit
dieser Forschungsfigur nahm Kamper dezidiert Abschied
von einer Form der Kritik, die gewöhnlich die
verbliebenen Kapazitäten aus den weniger abstrakten Dimensionen zu mobilisieren
sucht, um der Gegenwart beizukommen. Vielmehr hat er mit Hilfe Flussers einen neuen, nichtrahmenden Rahmen gefunden, um
auch die gegenwärtige Zeit der nulldimensionalen Rechenzeitpunkte mitnehmen zu
können in ein „Projekt“ Menschwerdung, das für ihn eher als Projekt
„Sterblichwerdung“ beschrieben werden muß.
In einem der letzten für
die Öffentlichkeit bestimmten Blätter[54]
taucht denn auch zum ersten Mal eine Begrifflichkeit für die Bestimmung eines
Denkradius’ auf, für die Kamper sonst keine denkerische
Verwendung gefunden hat: Fraktale Kosmologie. Es
überrascht nicht, daß in den letzten Entwurfsätzen dieses Blattes ein Gestus sich
Ausdruck verschafft, der mehr denn je der Einsicht Horkheimers
verpflichtet ist, daß die Hoffnung der Vernunft in der
Emanzipation von ihrer eigenen Furcht vor der Verzweiflung liegt. Kamper: „Eine Entklammerung [des] fatalen Zusammenhangs von
weltlosem Menschen und unmenschlicher Welt kann es nur theoretisch geben, weil
die ‚Quintessenz’ eine geistige Vorgabe ist, die – ins Unbewußte abgesenkt und
abgesunken – solange funktioniert, wie sie undurchschaut bleibt. Historische
Anthropologie und fraktale Kosmologie im Verein
könnten hier Aufklärung leisten.“
V Statt eines
Schlußsatzes
„Liebe Freunde,
ich habe, um wieder in
Jahren rechnen zu können, etwas ausgeheckt: eine Anthropologie-Reihe bis zum
Jahr 2004. Ich habe sie ausgeheckt, indem ich dem Wind gehorchte, ‚der in den
untersten Regionen des Todes bläst’ (Kafka: Der Jäger Gracchus,
Schluß). Denn es führt kein gerader Weg zurück ins Leben. Man kann aber die
Frist verlängern, die das unterbrochene Sterben dauert, wunderbarerweise.
Begonnen hat das ganze Unternehmen,
nach Präliminarien vor Ausbruch der Krankheit (Sâo
Paulo und Neanderthal) in Dresden Juli 2001 ‚Der
(im)perfekte Mensch’. Weitergehen soll es mit der Symposion-Fassung
von ‚Der Mensch als Schicksal, Zufall und Gefahr’ in Berlin im April 2002, mit
illustren Gästen. Im Frühjahr 2003 steht Bonn an, mit der Abschlußveranstaltung
‚Der Mensch als Quintessenz. Von der historischen zur fraktalen
Kosmologie’. Enden soll es 2004 bei den Berliner Festspielen [...] mit einem
Kongreß über ‚Exzentrische Paradoxie’. Weiter geht es nicht. Dann sollen andere
übernehmen. [...]
Die Freunde im Netz (Köln,
Karlsruhe, Berlin) sind vorab informiert und haben im Prinzip ihre Teilnahme zugesagt.
Es ist aber auch daran gedacht, eigenwillig gestimmte Zeitgenossen, vor allem
jüngere, die noch nicht gesprochen haben, einzuladen, nach dem bisher geltenden
Muster: je fremdartiger die Stimmen, desto besser für die Atmosphäre.
Widerstreit ist angesagt. Für Kumpane, die immer dasselbe bereits verstandene
Zeug wiederholen, gibt es keinen Platz mehr.
Mit altersradikalen Grüßen
Dietmar“
(16. Juli 2001)
[1] Derselbe, Horizontwechsel.
Die Sonne neu jeden Tag, nichts Neues unter der Sonne, aber…, München 2001,
p20.
[2] Derselbe, „Hermetiker an die Front“. Nachbetrachtungen zur Eröffnung
der Reihe „Die Rose im Kreuz der Wirklichkeit. Eine Einführung in das
hermetische Denken“ am 08.06.2000 in Köln. Loses Blatt, datiert Pfingsten 2000.
[3] Ich möchte damit die
Bedeutung des Denkens Rosenstock-Huessys für das
Denken Kampers um kein Jota schmälern, sondern nur zum Ausdruck bringen, daß
der Dietmar Kamper, den ich kennengelernt habe und
der mich hier interessiert, nicht mehr wesentlich mit Rosenstock-Huessys
Denkkosmos in Verbindung stand.
[4] Alle Zitate auf einer der
ersten unpaginierten Seiten jedes Paragrana-Heftes.
[5] Dietmar Kamper,
Nach Dannen, ins erste Futur, unveröffentlichtes Manuskript, Otzberg 2000. Gleichsinniges zur Grenze hat Kamper auch dem Künstler Jan Fabre zugeschrieben:
„Il ne transgresse aucune frontière, car il sait que chaque transgression emporte
avec soi la frontière et que ces frontières ne peuvent s’ouvrir que sur une
intériorité. L’éventuel retournement sur soi-même est son activité principale“;
Dietmar Kamper, Sept Phrases à propos de L’Aptitude au Chaos de L’Artiste, in:
Derselbe, Jan Fabre ou L’Art de
L’Impossible, Strasbourg 1999, p26.
[6] Friedrich Hölderlin,
Sämtliche Werke, ‚Frankfurter Ausgabe’, Bd.4: Oden I, hg. von Dietrich E. Sattler
& Michael Knaupp, FFM 1984, p202.
[7] Horizontwechsel. Die Sonne
neu jeden Tag, nichts Neues unter der Sonne, aber…, München 2001.
[8] Alle Zitate ebenda,, p8.
[9] Duden, Das Fremdwörterbuch,
Bd.5, Mannheim u.a. 1990, p481.
[10] „Zunehmend spiegeln die
Reste des Bewußtseins das Scheitern dieser fundamentalen Emanzipationsbewegung
[der bürgerlichen Moderne; B.T.], die von den Schranken der Erde und den
Grenzen des Himmels frei sein wollte – wenn auch nur undeutlich und so, daß
sich kein einheitliches Bild mehr ergibt“; Dietmar Kamper,
Zur Geschichte der Einbildungskraft, Ausgabe Reinbek 1990, p54.
[11] Sieh nur Rüdiger Bubner, Kann Theorie
ästhetisch werden? – Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos, in: Neue Rundschau
4/1978, p537-553.
[12] Derselbe, Human Migration and the Marginal Man, in: The American Journal
of Sociology, 33/1928, p881-893.
[13] Kampers letztes großes und
leider nicht mehr begonnenes Vorhaben war, eine Geschichte des Ketzerei zu
schreiben als Geschichte des gescheiterten Abgangs vom Kreuz, da sich
Orthodoxie und Häresie vermählten. – Neben einer extraordinären Literatursammlung
hat Kamper für dieses Vorhaben zwei Exposé-Texte
angefertigt: „Der Augenblick des Ketzers. Methodologische Präliminarien“,
datiert mit „in den Hundstagen des Jahres 2001“, sowie eine
Gliederungsübersicht des Titels „Das verschattete Herz der Vernunft. Eine
andere Ketzergeschichte“, mit der Kurzdarstellung von 10 Kapiteln; undatiert
(um Pfingsten 2001).
[14] Helmuth Plessner,
Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), GS IV, hg. v. G. Dux, O. Marquard, E. Ströker (u.
M. v. R.W. Schmidt, A. Wetterer, M.-J. Zemlin), FFM 1981, p181ff., p303ff., p360ff.
[15] Plessner,
Die Stufen..., a.a.O., p400.
[16] Plessner,
Die Stufen..., a.a.O., p401.
[17] Was bekanntlich zu Luhmanns
These führte, daß Kontingenz der Eigenwert moderner Gesellschaften sei.
[18] „Aufklärung, was sonst?“,
war Kampers Antwort auf die Attacke Klaus Laermanns
gegen ihn Mitte der 1980er Jahre. Mir scheint, daß Kampers Sätze oft nur zur
Hälfte gelesen wurden. Etwa diesen: „Der böse Geist der Abstraktion muß zwar
relegiert werden, aber nicht um der gestorbenen Religion aufzuhelfen, sondern
um die immer verhinderte Freiheit zu befreien“ (Dietmar Kamper,
Abgang vom Kreuz, München 1996, p8).
[19] Dietmar Kamper,
Zur Geschichte der Einbildungskraft, Ausgabe Reinbek 1990, p55.
[20] Loses Blatt von Dietmar Kamper vom 20.01.1999.
[21] Vielleicht in Anlehnung an
Goethe, der schon 1825 in einem Brief an seinen Freund Zelter davon sprach, daß
jetzt alles ultra sei (Hamburger Ausgabe der Goethe-Briefe, Bd.4, p146).
Zitiert bei Jochen Hörisch, Ende der Vorstellung. Die
Poesie der Medien, FFM 1999, p165.
[22] Dietmar Kamper,
Nach Dannen,... a.a.O., o.S.
[23] Dieses Suchen fand für Kamper in seinen Begegnungen mit und seinen Aufenthalten in
Brasilien, vornehmlich in Sâo Paulo, reichhaltige
Unterstützung. In einem Papier mit der Überschrift „Ein Manifest für Sâo Paulo“ (datiert mit „Ostern 2000“) heißt es: „Es kommt
nicht mehr darauf an, Recht zu haben oder zu behalten. Wichtiger ist die Offenheit
der Sinne. Die Wirklichkeit muß ins Schwarze der Theorie treffen können. [..]
Eine pathische Existenz ersetzt die Aktionsmanie der
Macher. Auf Anhieb geht fürderhin alles daneben. Das Danebengehen entfaltet
dabei eine Logik des ‚Para’, die nach und nach die ‚Meta’-Physik ablöst. Noch wird dergleichen als Schande für
die Zunft angesehen, aber Scheiternkönnen ist die
conditio sine qua non der Zukunft.“ (Siehe auch Horizontwechsel, a.a.O., p67
ff.)
[24] Dietmar Kamper,
GeistesGegenwart und KörperDenken,
in: Paragrana, Heft 6/1997: Selbstfremdheit (hg. von
Dietmar Kamper), p247-267, hier: p266.
[25] Aus einem Brief von Dietmar
Kamper an Peter Sloterdijk vom 20.12.1999.
[26] Dietmar Kamper,
Brief an Jan Fabre, datiert „Mitte Dezember 1999“.
[27] Siehe demnächst (März
2005): Viktor von Weizsäcker, Pathosophie (in der
Fassung letzter Hand), Bd. 10 der Gesammelten Schriften, hg. von Peter Achilles,
Dieter Janz, Martin Schrenk (†) und Carl Friedrich von Weizsäcker, FFM 2005.
Bis dahin: Pathosophie, Göttingen 1956, p57-86 +
p356-367.
[28] Horizontwechsel, a.a.O.,
p140.
[29] Und zwar in Form eines
recht frühzeitigen Ausschlusses seines Unterprojektes zu Idiosynkrasien im
Rahmen der Beantragung eines Sonderforschungsbereiches namens „Kulturen des Performativen“
an der Freien Universität Berlin, der dann ohne sein Projekt Ende der 90er
Jahre bewilligt wurde. Kamper schreibt in einem
undatierten Brief an seine „Freunde“ des Interdisziplinären Zentrums für
Historische Anthropologie: „[D]as Projekt mit dem Titel ‚Idiosynkrasien’ wird
mit mehr oder weniger idiosynkratischen Gründen in
vorlaufender Unterwerfungsbereitschaft unter die DFG-Hoheit ausgeschlossen.“ –
Mir kam zu Gehör, daß der Hauptgrund des Ausschlusses in der an DFG-Kriterien
gemessen mangelhaften resp. DFG-inkompatiblen Ausführung des Projektantrages zu
suchen gewesen sei. Den Antrag habe damals ich geschrieben.
[30] Horizontwechsel, a.a.O.,
p138.
[31] „Abgang vom Kreuz“ ist der
Titel des 1996 erschienenen Buches von Kamper (München),
in dem vom Tod Gottes einerseits ausgegangen und gleichzeitig versucht wird,
die Macht des toten Gottes zu verabschieden; und damit sich selbst zu
verabschieden von Versuchen, im Geist, in der Abstraktion, in der Virtualität
sich seiner Unsterblichkeit zu versichern. Siehe Kapitel 1 und 2.
[32] „Der unmögliche Austausch.
Der Körper spielt Theater mit dem Unerträglichen“ ist der Titel des Aufsatzes
von Kamper im Paragrana-Band
„Idiosynkrasien“ (Heft 2/1999, p36-44). – Kampers Beschäftigung mit
Idiosynkrasien und damit mit dem Mirakel „Immunsystem“ scheint nicht
unerheblich Einlaß gefunden zu haben in Peter Sloterdijks Sphärologie, vor
allem in den Bänden II und III.
[33] Derselbe, Phänomenologie
des Geistes, Bd.3 der Werke, FFM 1970, p35f.
[34] Siehe zur Fortsetzung
Hegels durch Deleuze Laura Bieger
& Annika Reich: Mit Deleuze auf dem Weg vom
Problem zur Lösung, in: Bernd Ternes u.a. (Hg.):
Einfache Lösungen. Beiträge zur beginnenden Unvorstellbarkeit von Problemen der
Gesellschaft, Marburg 2000, p35-55.
[35] Abgang vom Kreuz, a.a.O.,
p14.
[36] Abgang vom Kreuz, a.a.O.,
p9.
[37] Ohne den Nachweis antreten
zu können, bin ich davon überzeugt, daß Peter Sloterdijks umfassender Rekurs
auf das Komplexsyndrom „Immunsysteme“ entscheidend durch Kampers Beschäftigung
mitinitiiert wurde. Siehe etwa den Abschnitt „Weltseele in Agonie – oder: Das
Auftauchen der Immunsysteme, in: Peter Sloterdijk, Schäume. Bd.3 der
Sphärentrilogie, FFM 2004, p192-207.
[38] Dietmar Kamper,
Der unmögliche Austausch, a.a.O., p41.
[39] ebenda, p44.
[40] Dietmar Kamper,
Zwischen Simulation und Negentropie. Das Schicksal
des Individuums im Rückblick auf das Ende der Welt, in: derselbe und Christoph
Wulf (Hg.): Rückblick auf das Ende der Welt, o.O.
[Klaus Boer Verlag], o.J.,
p138-145, hier: p140.
[41] Es ist an dieser Stelle ein
Bedauern darüber zu äußern, daß Kamper seine Forschungen
zur Sozioakustik (siehe etwa: Paragrana,
Heft 2/1993: Das Ohr als Erkenntnisorgan) nicht weiter ausbaute zu einer
Melos-Forschung, die erst, mit einem anderen Anschnitt, von Hans Peter Weber
aufgenommen wurde im Rahmen seines Theorieprogramms „KreaturDenken“.
[42] Derselbe, Ästhetische Theorie, Bd.7 d. GS, FFM 1970, p293.
[43] Dietmar Kamper,
Horizontwechsel, a.a.O., p67f.
[44] Zum Beispiel, auf das
Glücksversprechen bezogen: „Es gibt keine objektiven Daten des dionysischen
Glücks, daß man nämlich nur außer sich bei sich ist, daß man erst in der Tiefe
seines Körpers bei den Göttern sein kann. Das Rätsel des gottmenschlichen
Austauschs, der ein Stoffwechsel ist, kein Formwechsel, besteht darin, daß
weder die Identität noch die Differenz bestimmend sein können, sondern eine
exzentrische Paradoxie, ein Selbstwiderspruch, der keine Mitte mehr behauptet.
Um dorthin zu gelangen, ist die Hilfe des Gottes angezeigt, der dem
Vorgang/Rückgang/Durchgang seinen Namen geliehen hat. Nüchtern versteht man
nicht, um was es geht, um was es ging, um was es gehen wird.“ Dietmar Kamper, Horizontwechsel, a.a.O., p107.
[45] Bernd Ternes,
Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz,
Marburg 2003.
[46] Konzentriert in folgenden
Sätzen: „Noch einmal: Zur Geschichte der
Einbildungskraft. 1231: Der Körper geht an die Schrift verloren; 1529: Der
Körper wird vom Zeichen des Heils abgelöst; 1803: Der Körper widersetzt sich
der Ware, der Kaufmannsvernunft; 1968: Der Körper wird entfesselt und aufs
Spiel der Phantasie gesetzt. – Wie paßt das zu Flussers
Eskalation? KörperRaum, BildFläche,
SchriftLinie, ZeitPunkt?
Die historische Eskalation hält sich zwischen Körper, Bild und Schrift. Sie
markiert diverse Widerstände gegen die Bild- und Schrift-Abstraktion vom
Körper, die zwar nicht erfolgreich waren, aber ihrerseits ‚Grundlagen’ für Kulturen
wurden.“ Dietmar Kamper, Loses Blatt, undatiert (wohl
1998).
[47] Derselbe, Die Gesetze der
Form, dt., intern. Ausgabe, Lübeck 1997, pXVIII.
[48] a.a.O., p196.
[49] a.a.O., p191.
[50] Derselbe, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, FFM 1998, z.B. p18, p26: „In der Richtung zu immer ‚höherer’ Abstraktion, die wir bisher eingeschlagen haben, geht es nicht weiter.“
[51] Derselbe, Ästhetik der
Abwesenheit. Die Entfernung der Körper, München 1999, z.B. p10: „Wir sind
nämlich buchstäblich bei ‚nichts’ angekommen, in der Nulldimension des
numerischen Denkens. Das war ein weiter Weg. Wir müssen diesen Rückweg zurückgehen:
bis in die Körperwelt, in der wir Körper von Körpern sein können.“
[52] Vilém
Flusser, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, FFM
1998, p21f.
[53] Dietmar Kamper,
Horizontwechsel, a.a.O. p34. Ebenso das Schema.
[54] Titel des Blattes: Der
Mensch als Quintessenz. Von der historischen Anthropologie zur fraktalen Kosmologie. Entwurf für eine
Abschlußveranstaltung der Elemente-Reihe in der KAH
Bonn; datiert mit „Otzberg, den 14.Juli 2001“.