Opferorientiert (1998)

Bernd Ternes

 

Ist die Sprache noch verräterisch oder nur noch ekelhaft und bedrohlich? Genauer: Trägt das Sprechen bestimmter Worte in bestimmten Situationen von bestimmten Personen zu bestimmten Themen noch dazu bei, daß der Sprecher sich seine Maske selbst herunterreißt, eben weil er so spricht, wie er spricht? Oder ist die Annahme eines Dahinter, eines Unterschieds zwischen Gesicht und Maske und zwischen Absicht und Ausdruck nur noch naiv?

Als Kanzleramtsminister Bohl zu Beginn der 3. Januarwoche vor die Mikrophone trat und den Regierungsbeschluss betreffs der Entschädigung osteuropäischer jüdischer Opfer des Nationalsozialismus eine „opferorientierte Lösung“ nannte: War das noch verräterisch?; verriet er damit noch Unzurechnungsfähigkeit, Dummheit und durch sozialpädagogische Semantik dekorierten schenkelschlagenden Zynismus? Oder sagte er einfach das, was er meinte, nur wir verwechseln das Subjekt des Opfers? Meinte er, angesichts der Tatsache, daß die Entschädigungsfrage für osteuropäische Juden schon Anfang der 50er von Adenauer als eine schnell zu lösende Frage behandelt wurde, also bald 50 Jahre verschleppt wurde, und angesichts der Tatsache, daß die finanziellen Zuwendungen erst 1999 die Opfer erreichen werden; meinte Bohl also mit der „opferorientierten Lösung“ eine Lösung, die sich an den finanziellen Opfern des Staates orientiert habe?

In Büchners Dantons Tod stellt Robespierre nach einem argen Streitgespräch mit Danton in fast wirrer Reflexion fest, daß die offenen Wundstellen seiner Politik sich nicht schließen lassen: „Ich mag so viel Lappen darum wickeln als ich will, das Blut schlägt immer wieder durch.“ Resigniert summiert er: „Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt.“

Das immer wieder durchschlagende Blut der Mächtigen: Ins Prosaische übersetzt und als Ziel formuliert hieß das noch in den konfliktorientierten 70er Jahren, den Herrschenden mehr an Transparenz abzutrotzen und sie dadurch zu zwingen, immer komplizierter zu lügen, zu desinformieren und sich zu verstecken. Entsorgungspark, Arbeitsförderungsgesetz, Vorne-Verteidigung und dergleichen Begriffsbildungen mehr sind dabei heraus gekommen, nachdem Heiner Geißler Mitte der 80er Jahre das Begriffe-Besetzen als demokratische Version des militärischen Krieges selbst als Begriff besetzte.

Eine Sprache wie die Bohls macht verständlich, warum das Bedürfnis der „mündigen Bürger“ immer größer wird, doch bitte professionell verarscht zu werden; zumindest scheint es vielen politisch Interessierten unerträglich geworden zu sein, von Politikern eine Sprache vorgesetzt zu bekommen, die selbst nicht mehr realisiert, wie obszön sie ist.

Aber Hilfe naht: Im Rahmen einer versteckten Aufforderung zur präventiven Denunziation bietet sich die Polizei seit Mitte Januar auf Plakatwänden als Anlaufstelle an: „Wenn was nicht stimmt - Sprich Deine Polizei an“.