Die Sache Natur (1999)

Bernd Ternes

 

Wenn heutzutage über Werbung und Reklame gesprochen wird, gilt meist nur noch ein Kriterium der Beurteilung: ob sie ästhetisch-lustig unterhaltend ist oder nicht. Bei manchen Werbespots, die maßgebend in den Kinos gezeigt werden, kommt noch das Merkmal der filmästhetischen Innovation hinzu. So weit, so gut.

Als vor gut einem Jahr RTL einen Spot für die eigenen Infotainment-Sendungen in die Kinos brachte, der übertrieben deutlich machen wollte, daß Lebenswelt und Lebensstil von Jugendlichen und Erwachsenen so verschieden sind, daß es nur natürlich ist, wenn die Kids durch ganz besondere Informationsformate sich ihrer eigenen Welt versichern, kam der Gedanke auf, hier werde die philosophische Postmoderne richtig eingelöst, also trivialisiert. Man spürte förmlich, wie die Sozialwissenschaften den Werbern die Stichworte ins Ohr flüsterten.

Nun, so scheint es, hat die Anthropologie und Soziobiologie herhalten müssen für einen Werbespot der Landesbausparkasse (LBS); und jetzt wird es gefährlich. 'Ein Haus bauen liegt in der Natur des Menschen. Miete zahlen nicht', so die abschließende Untertitelung eines Sekundenfilms mit traumhafter Landschaft und idyllischem Haus. Was will die LBS suggerieren? Daß jeder, der seiner menschlichen Natur gerecht werden will, ein Haus zu bauen habe und also die LBS als Baussparkasse ein Verein zur Beförderung der menschlichen Natur sei? Daß alle Mieter sich versündigen an ihrem eigenen Humanum und also noch nicht so richtig Menschen sind, vielleicht gar nur Menschen zweiter Klasse? Daß Menschen, die unnatürlich leben, viel schneller bereit sind, unmenschlich zu werden?

Der Gedanke, den die LBS für die Daseinsdimension wohnen soziobiologistisch durchspielt, ist natürlich ausbaufähig und auf andere Terrains anwendbar, etwa auf das des Fortpflanzens, des Sterbens, des Tötens, des Opferns. ‚Sich Fortpflanzen liegt in der Natur des Menschen. Abtreiben nicht'. Ihre Katholische Kirche’. Oder: ‚Sterben, wenn die Zeit gekommen ist, liegt in der Natur des Menschen. Künstliche Beatmung nicht. Ihre Krankenkasse’. Oder: ‚Sich verteidigen, wenn Fremde in den eigenen Nahraum treten, liegt in der Natur der Menschen. Multikultur nicht. Ihre CDU’. Oder schließlich: ‚Das Opfern eines Sündenbocks zwecks Auffrischung der ordnungsstiftenden Kraft von Gemeinschaft liegt in der Natur des Menschen. Liberale Toleranz nicht. Ihr Botho Strauss’.

Daß Plessners Figur der exzentrischen Positionalität des Menschen oder Nietzsches Bild vom nicht festgestellten Tier, daß überhaupt die Einsichten in die Unbestimmbarkeit dessen, was zur "menschlichen Natur" gehört, so en passant übergangen werden, ist nicht allein mit dem Sturm zu erklären, der gegenwärtig durch die eher wissenschaftliche Biologisierung, Genetisierung und Neurophysiologisierung menschlichen Daseins verursacht wird. Dieses 'Zurück zur Natur', das sich auch in der weltweit zunehmenden Ethnifizierung sozialer Kategorien zeigt, ist vielmehr die B-Seite dessen, was Büchners Hérault-Séchelles, Deputierter des Nationalkonvents und Anhänger Dantons, in folgende Worte fasste: "Jeder muß sich geltend machen und seine Natur durchsetzen können. er mag nun vernünftig oder unvernünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an. [...] Jeder muß in seiner Art genießen können, jedoch so, daß keiner auf Unkosten eines anderen genießen oder ihn in seinem eigentümlichen Genuß stören darf."

Der Natur des Menschen, die die LBS in Anspruch nimmt, liegt es wohl in der Natur der Sache, daß sie darauf keine Rücksicht mehr nimmt.