Schuld haben als Voraussetzung, Ich zu sein. Vom Zuendegehen der Schuld als Subjektvergewisserung durch temporalisierte Existenz

Bernd Ternes

 

 

"... ich versteh ja nichts von schuld,

aber du könntest ja den diskurs zwischen bubis und walser

aus der sicht von monica lewinsky skizzieren..." hari

 

 

 

Gibt es soetwas wie eine uneinziehbare Kluft zwischen Schuld und Wissen? D.h.: Bleibt die zugeschriebene und die empfundene Schuld unbeeindruckt von den Formen der Verarbeitung, der Erklärung, des Verstehens? Begleitet Wissen nur das Leiden an Schuld? Ist Schuld per se unverzeihbar, so daß nur zwei Formen des Umgangs mit ihr möglich sind: unbemerktes Vergessen oder zwanghaftes Erinnern? Gehört Schuld zu den Vereinfachern sozialer Verhältnisse, die sich Aufklärung widersetzen?; zeigt sich Schuld praktisch sozial unbeeindruckt von ihrer Auflösung in Wissen, das nicht mehr die einfachen Zuschreibungen ermöglicht, die durch Schuld möglich sind? Sind also Schuldverhältnisse tragende Wände nicht nur des menschlichen Umgangs, sondern auch für den eigenen Selbstbezug? D.h.: Bleibt Schuld auch dann noch vorhanden, wenn Schuldräume längst in Schutt und Asche liegen, vergleichbar dem Faktum Selbsterhaltung, das auch dann noch erhält, wenn kein Selbst mehr vorhanden ist?

1620 erscheint Francis Bacons Novum Organum. Dort heißt es an einer Stelle:

 

"Die Menschen gesellen sich mit Hilfe der Rede zueinander; aber die Worte werden den Dingen nach der Auffassung der Menge beigelegt. Daher behindert die ungeeignete Namengebung den Geist in merkwürdiger Weise... Die Worte tun dem Geist Gewalt an, stören alles und verleiten den Menschen zu zahllosen nichtigen Debatten und Trugschlüssen." - Novum Organum I, 43

 

Mit diesem Zitat will ich nicht sagen, daß Fragen nach dem Schuldbegriff, Fragen nach Schuld nur im Rahmen sprachkritischer Analysen methodisch richtig angegangen werden können. Es ist ersichtlich leider Unsinn zu sagen, Schuld sei nur ein Wort bzw. Effekt der falschen Verwendung von Rede und falscher Namengebung, auch wenn es genau dafür erfreuliche Beispiele gibt (ich erinnere an die Kämpfe der Gewerkschaften, Arbeitslosigkeit als soziale Tatsache aus dem Bannkreis privater Schuld herauszureißen und der administrativen Gesellschaft zu überantworten). Im Gegenteil: Schuld als Wort ist mit solch Animismus ermöglichenden Kräften ausgestattet, daß man denken könnte, es gebe eine privilegierte Beziehung zwischen dem Wort und der dadurch bezeichneten Sache. Es gibt der Worte nicht viele, die, zwar nur Zeichen, doch wie Symbole, fast schon wie Emanationen wirken.

Schuld ist ein genuin soziales Produkt, egal, ob man sich selbst schuldig macht, andere schuldig spricht, schuldig gesprochen wird oder sich und andere entschuldigt. Damit behaupte ich etwas, daß ich hier in diesem Rahmen nicht einmal plausibel gemacht werden kann, nämlich: Schuld ist kein genuin juridischer Terminus, keine genuin moralische Markierung, sie ist auch keine genuin religiös gespeiste Abstraktion, sondern sie ist, tiefergelegt, eine soziale Kategorie. Soziale Kategorien sind begriffliche Fassungen für soziale Strukturen, die sich automatisch ergeben, wenn Menschen miteinander in bestimmten Formen der Gesellung umgehen und zugleich umzugehen haben mit ebendiesen Formen, mit denen allerdings keine Interaktionen möglich sind, so daß ein unabschließbarer Koordinationsbedarf besteht von einerseits der Koordination der Menschen in den Formen und andererseits der Koordination der Menschen mit den Formen. Soziale Kategorien sind also Koordinationskoordinationen mit einer bis auf weiteres unbeobachtbaren Komponente, nämlich der Gesellungsform (Beispiel: Sind 6 Menschen eine Gruppe, so sind sie zu siebt: Die Gruppe ist der genau auf der Grenze innen/außen stehende Teilnehmer, mit dem man nie direkt Kontakt aufnehmen kann). Wenn hier behauptet wird, daß Schuld eine genuin soziale Kategorie ist, dann heißt das: Sie übernimmt - wie etwa auch das Phänomen Vertrauen - die Aufgabe, die Koordinationskoordination eindeutig auf die Seite hin umzubrechen, in der die Menschen ihr Miteinander koordinieren. Schuld ist der auf Augenhöhe ansetzende Versuch, Geschehnisse, die sich der Anschauung entziehen, weil sie aus den Koordinationen mit den Gesellungsformen entstehen, anschaulich zu machen, indem sie sich die erstbesten Komponenten greift, die am einfachsten identifiziert werden können: Und das sind immer noch diese kompakten Menschen. Schuld ist also - wie Vertrauen  - eine Vereinfacherin, eine notwendige und sich automatisch ergebende Vereinfacherin sozialen Verkehrs, ein notwendiges Ingredienz dafür, daß Menschen selbstverständlich glauben, die soziale Welt konvergiert auf sie.

Dem steht natürlich nicht im Wege, daß es vornehmlich juridische, moralische und religiöse Diskurse, Interessen und Teilsysteme der Gesellschaft sind, die sich der Schuld existentiell, psychisch und ordnungstheoretisch annehmen. Und auch die hinlänglich er- und bekannte Tatsache, daß diese Diskurse, Interessen und Systeme erst das konstruieren und erfinden, was sie als Gegebenes dann voraussetzen und zu dessen Normierung, Eindämmung oder auch Proliferation sie sich aufschwingen, ist keine Gegenrede zur These, daß Schuld eine genuin soziale Kategorie ist.

Schuld also als soziale Kategorie, vielleicht sogar als der heimliche, synchronisierte Treibstoff desjenigen Prozesses, den man mit dem Begriffspaar Individuation/Sozialisation bezeichnet. Aber: Ist Schuld auch eine soziologische Kategorie?

 

Die moderne Sprachkritik diente einstmals zur Emanzipation von dem in der Sprache konservierten archaischen Weltbild. Neue Weltbilder sind dazu gekommen, nun nicht mehr archaisch, sondern modern, zum Teil zivilisierter, zum Teil barbarischer. Die Kritik der Sprache sollte bewußt machen, daß die Sprache nichts schlechthin Gegebenes ist, sondern als Instrument betrachtet werden kann, das der Mensch in verschiedenen Lebenssituationen zu verschiedenen Zwecken gebraucht und diesen Zwecken entsprechend auch zu ändern vermag. Pierre Bourdieu hat meines Erachtens sehr plausibel vorgeführt, wie bestimmte Kriterien des Erfolges und der Macht sprachlicher Kommunikation aus den Komponenten Grammatik, Syntax und Semantik herauszuziehen sind, um sie den Kontexten der Pragmatik und des sozialen Feldes zuzuführen. Die Frage auf  "Ce que veut dire parler?" beantwortete Bourdieu also erheblich in den Dimensionen der Zeit, der Situation des Sprechens und der Positionierung der Sprecher im sozialen Raum.

 

Die moderne Gesellschaftskritik, nennen wir sie der Einfachheit halber Soziologie, hatte ein ähnliches Ziel: Bewußt machen, daß Macht, Zwang, Leid, Formen des Wirtschaftens, Handelns, Verhaltens, Tun und Lassens nicht per se Gegebenheiten/Geworfenheiten sind, sondern historische Gestalten und Dispositionen, die, immer in Bewegung, entweder sich wandeln, sich nicht wandeln, obsolet sind oder schon zukünftig in den gegenwärtigen Gesellschaftsbetrieb einwirken. Der Preis dieser Kritik im und des okzidentalen Rationalismus, der Preis der Entzauberung, der Säkularisierung, der Dezentrierung, der Verwissenschaftlichung, der Artefaktisierung ist, grobschlächtig gesagt, heute der: Radikaler Konstruktivismus, radikale Dekonstruktion, radikale Digitalisierung, radikale Visualisierung. Das Auflöse- und Rekombinationsvermögen moderner Gesellschaften scheint nun voll entfaltet (Kopernikus, Darwin, Freud, Wittgenstein, Wiener, Systemtheorie, Gentechnologie); die Habermas’sche Dauerreflexion zertrümmert mehr Tradition als sie selbst schafft; Kontingenz wird als der Eigenwert moderner Gesellschaften ausgerufen; sich vorübergehend auf vorübergehende Lagen vorübergehend einstellen scheint unter dem Wort des flexiblen0Individuums die gesellschaftsweite Runde zu machen. Das Ich, das ausruft "Ich war es nicht!" steht im Wechsel mit einem anderen Ich, das vom Selbst eine permanente Gegenwär­tigkeitsproduktion seiner selbst ver­langt und das jedes Jetzt unter Verdacht stellt, ein maskier­tes Ich zu bergen.

Ersichtlich macht dieser mittlerweile auch gesellschaftlich angekommene Stand der Einsicht in die Unmündigkeit produzierenden Bedingungen zur Ermöglichung mündiger Bürger angst. Er macht angst und reizt zu sozialstrukturellen, sozialpolitischen und theoretischen Gegenschlägen. Alain Tourraine hat Anfang der 80er Jahre davor gewarnt, daß genuin soziale Kategorien der Selbstbeschreibung von Gesellschaften schleichend ausgetauscht würden durch ethnische und kulturelle Markierungen. Botho Strauss' Intonation des Bocksgesangs drückte einen weiterhin herrschenden Zeitgeist aus, als er in groben Zügen den vergesellschafteten und modernen Menschen abräumte, um dem archaischen, dem mythischen, dem irrationalen und konservativen Menschen wieder einen Raum zu geben. Reregionalisierung passiert allenthalben, Kriege passieren aus für uns unerfindlichen Motiven, die Konventionalisierung und Reglementierung gesellschaftlicher Verkehre zieht in vielen Bereichen an. Heimat, feste Bindungen und Übersichtlichkeit sind wieder gefragt, das Bedürfnis nach Wirklichkeit und nicht nach Möglichkeit nimmt zu. Die symbolische, die imaginäre, die Zeichenwelt, die vom Kopf aus entworfene Welt verliert Aufmerksamkeit zugunsten anthropologischer, performativer, vermeintlich der menschlichen Natur entsprechender Attribute. Man könnte hier durchaus plausibel Parallelen ausmachen mit bestimmten Eigenarten der ästhetischen und politischen Romantik im Sinne Karl Mannheims, nämlich als Sammelbegriff oder Container eines reflektierten Traditionalismus, der auf das durch die Aufklärung scheinbar Unterdrückte oder Vernichtete aufmerksam machte, dies aber auch nur im aufgeklärten Modus tun konnte (Beispiel: Baumgartens Aisthesis-Theorie). Der Unterschied heute ist allerdings, daß die Gegenreaktionen nicht mehr wie auch immer ästhetisch, theoretisch oder intellektuell sublimiert sind, sondern direkt gesellschaftlich wirken, ohne über Psychen in den gesellschaftlichen Verkehr einfließen zu müssen. Das Unbehagen, so kann man überspitzt formulieren, deponiert sich nicht mehr nur psychisch und unbewußt, sondern hat sich, positiviert, in die Vergesellschaftung selbst hineinevakuiert.

Die Gesellschaft emanzipiert sich zunehmend von Menschen (aber noch nicht: vom Menschen), von Menschen, denen fast nichts mehr geblieben ist als: geboren zu werden, zu sterben, zu leiden, kaum mehr etwas zu verstehen, manchmal zu lieben und: sich schuldig zu machen resp. schuldig zu sprechen. Nachgerade hat es den Anschein, als sei Schuld neben dem Haß (in der Baudrillardschen Sichtweise) eine der letzten eingreifenden Beziehungsorganisationsformen, die den Menschen zur Verfügung steht, um sich als soziale Wesen zu verstehen, um wirklich zu erleben jenseits von Unterhaltung und Kontingenz. Vielleicht ist das, was Liebe geheißen, nur möglich, wenn man sich schuldig fühlen kann. Und umgedreht: Existiert Schuld nicht mehr, verliert man die Fähigkeit, sich und andere zu lieben. Ein Verlust, den die wenigsten als Gewinn ansehen können, solange daran geglaubt wird, daß wahre Liebe selbst die Zeitlichkeit überwinden könne.

These wäre also: je weniger Anhaltspunkte Gesellschaft bietet, die Ursache oder das Subjekt von Handlungen im einzelnen Individuum auszumachen, desto größer wird der Bedarf, die zunehmend amorph werdenden Sozialbeziehungen durch Be-Schuldigung zu vereindeutigen. „Mitten unter den standardisierten und verwalteten Menscheneinheiten“, so Adorno, „west das Individuum fort“ (Minima Moralia, p176f.): Schuld als eine Verwesungsgestalt des mitgeschleppten, neutralisierten Individuums; da, wo der Gestank am penetrantesten ist, suggeriert man die höchste Dichte an Menschlichkeit. Das kann subjektiv soweit gehen, daß das Verbrechen als Akt der existentiellen Identitätsvergewisserung benutzt wird. „Ein Königreich für einen Staatsfeind“, ruft die Macht; „Ein Verbrechen für meine Identität“, ruft das überflüssig gewordene Individuum. Nochmals: Je weniger eine Gesellschaft angewiesen ist auf soziales Handeln von Menschen, um sich systemisch zu reproduzieren, desto rigider werden Moralsysteme eingeführt, die als Triebkräfte und als Regulatoren sozialen Handelns und der Verhaltensorientierung fungieren. Bei Ruth Benedikt[1] sind dies Moralsysteme, die sich entweder auf eine „guilt culture“ oder auf eine „shame culture“ beziehen. Hinterrücks jedoch scheint sich die Kultur der hochkapitalistischen Gesellschaft zu emanzipieren von einem Moralsystem, das soziales Handeln, Erwartungen stabil verstrebt und aufrechterhalten muß. So wie Baudrillard einst die Sphäre der Politik der Simulation überantwortete, so könnte man nun, eine Etage tiefer quasi, bei der Kultur ansetzen: Die Kultur simuliert sich mithilfe der Moral, und, leider zunehmend, mit Ethnifizierung.

 

 


Ich möchte also im folgenden nicht über Schuld reden innerhalb eines Rahmens, der durch Begriffe wie Sühne, Bürde, Last, Erlösung, Verzeihung, Befreiung, Buße oder Kollektivschuld markiert wird. Kein weiteres Derivat des Gedankens eines schuldlosen Schöpfers und einer schuldig/sündig gewordenen Geschöpfe-Schar (oder umgedreht: Luthers Bild des vom Pferd Adam absteigenden Gottes, der damit für den Sündenfall verantwortlich ist), des Gedankens eines ursprünglichen Schuldverhältnisses der Menschen zu ihrem producer soll zu hören sein. Das religiöse Bündel Sünde, Schuld, Erlösung bleibt also links liegen; ebenso der Gedanke notwendiger Schuldverstrickung und notwendigen Verbrechens der Töchter und Söhne gegenüber dem Vater, damit das Gesetz-des-toten-Vaters Kraft, Gesetzeskraft erlangt. Es wird also nicht von Interesse sein, daß und wie Freud in der Funktion des Todes Gottes den Vatermord als direkteste Repräsentanz desselben als modernen Mythos einführt (Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Bd. XI, p343). Und auch nicht interessiert der sehr interessante Gedanke Freuds, die Menschheit als Ganzes habe zu Beginn ihrer Geschichte ihr Schuldbewußtsein am Ödipuskomplex erworben; sowenig, nun abschließend damit, der interessante Satz Lacans interessiert, nach dem alle Übungen des Genusses etwas mit sich bringen, das sich im Schuldbuch des Gesetzes einschreibt (Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, Seminar VII, p215); und sowenig, last but not least, Zizeks Konzept eines Subjekts bar der Subjektivität aufgegriffen wird, demzufolge das Cartesische Subjekt sich als Monster herausstellt immer genau da, wo wir das Subjekt von all seinen Vermögen als 'menschlicher Person' ablösen (S. Žižek, Das Unbehagen im Subjekt, p18).

Vielmehr will ich wie grob auch immer hinweisen auf eine Gegenläufigkeit, die schon im Titel zu lesen ist: Daß nämlich einerseits Schuld immer noch eine wesentliche Verkörperung dessen darstellt, was soziale Anerkennung geheißen, daß also Ich-Identität immer noch maßgebend über die Anerkennung des Schuldseins, des Schuldig-gemacht-Habens, des Schuldhabens und des In-der-Schuld-des-anderen-Stehens produziert wird; und daß andererseits ebendiese Form der Sozialinklusion immer weniger dazu beiträgt, daß sich die Menschen als Iche, als von anderen Subjekten anerkannte Subjekte, verstehen und erleiden. In der klassischen Sozialisationsforschung wird davon ausgegangen – ich verkürze jetzt fahrlässig –, daß es eine wesentliche Bruchstelle in der semantischen, sozialen und kulturellen Reproduktion einer Gesellschaft gibt, nämlich die Stelle der Adoleszenz, weil hier sich zeige, ob ein systemkonformer Anschluß der jeweils nächsten Generation an die vorhergehende gelingt oder nicht. Kultur, Tradition, Semantik, Matrizen gesellschaftlicher Ordnung müssen hier gewissermaßen über einen synaptischen Spalt. Am Gelingen oder Nichtgelingen könne man absehen, inwieweit eine Gesellschaft noch ausreichend ausgestattet ist mit funktional notwendiger Motivation und Legitimation ihres Soseins. Ebenso ist daran absehbar, inwieweit die Individuen fähig sind, ein Ich zu entwickeln, ein Ich, das als psychologischer Begriff mit dem soziologischen Begriff der Identität korreliert. Ich-Identität soziologisch verstanden bedeutet also eine symbolische Struktur, die es einem Persönlichkeitssystem erlaubt, im Wechsel der biographischen Zustände und über die verschiedenen Positionen im sozialen Raum hinweg Kontinuität und Konsistenz zu sichern" (Döbert, Habermas, Nummer-Winckler, Entwicklung des Ichs, Köln 1977, p9). (Indem die Einzelnen, so die gesellschaftstheoretische Richtung, ihre Identität erhalten und unterhalten, sichern sie nämlich zugleich die Intersubjektivität möglicher Verständigung untereinander.) Was wäre nun aber, wenn man davon ausgeht, daß der Holismus und die Homogenität des phänomenalen Bewußts­eins Illusionen sind, die durch einen nied­rigen zeitlichen Auflösungsgrad derjenigen Funktionen bedingt ist, die mentale Repräsentate zu bewußten machen; und also davon ausgeht, daß sie nicht mal Be­standteile einer Ich-Illusion sind, weil diese Illusion niemandes Illusion ist, so Thomas Metzinger[2]? Und daß ebendieses Wissen mittlerweile wirklich gewußt wird, vielleicht noch nicht in Gänze kognitiv aufgeschlossen, aber schon bemerkbar als eine Art manifestes Unbehagen in der Gesellschaft? Als ein Unbehagen, das durch bestimmte, m.E. anwachsende Selbstbeschreibungen manifest wird, Selbstbeschreibungen der Art, nur noch durch die Jahre zu fallen resp. nur noch zu altern, Selbstbeschreibungen also, die keine clevere Flucht vor sich und zu sich selbst mehr garantieren, die das Ich nicht mehr in der Arbeit, in der Liebe, im Denken sich so enthal­ten lassen, daß Sicht auf die Grenze zwischen Selbst- und Fremdrefe­renz jederzeit möglich ist, Selbstbeschreibungen, die Pflicht, Forderung, Ge­sichtwahrung und Sorgen einzig nur noch als Wegweiser vorkommen lassen, um nicht vom Weg der Normalität ab- und ins Gelände lallenden Wahnsinns hineinzukommen.

Schnittig kann man das so fassen: Die Menschen als soziale Wesen werden ob der Abnahme psychischer Gratifikationen und Identitätsstiftungen durch ihr Teilnehmen an der sozialen Veranstaltung Gesellschaft zunehmend gezwungen, soziologische Wesen zu werden.

Als soziologische Wesen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, immer weniger Zuschreibungen auf die eigene Psyche, auf das eigene Wahrnehmen/Wahrgenommenwerden, auf das eigene Bewußtsein, auf die eigene, durch Haut und Kleidung als Einheit anschaulich gemachte Identität durchführen zu müssen, um sich gesellschaftlich zu behaupten. Soziologische Wesen sind, um mit Namen zu markieren, solche, die Einsichten Fernando Pessoas, Emile Michel Ciorans und Peter Fuchs‘ nicht mehr nur lesen, sondern leben. Und dabei ist es nicht soziologisch zwingend, daß man die Perspektive des Mangels und des Verlustes ansetzen muß! Nicht mehr zu wissen, daß der Körper gewiß existiert, nicht aber das Wissen; nicht mehr zu wissen, wann etwas anfängt und aufhört; davon auszugehen, daß das Bewußtsein das Unbewußte schlechthin ist für die Kommunikation; davon auszugehen, daß es Erfahrungen gibt, die man nicht überleben kann, und die man trotzdem überlebt hat: All das muß keinesfalls als Abfall vom Begriff Mensch aufgefaßt werden. Man wird sich selbst einfach das, was man sonst, als soziales Wesen, immer nur für andere ist: Adresse und Person. Man unterhält ein unpersönliches Verhältnis zu sich als etwas, was einem nicht gehört, als etwas, dem man nur zu Teilen angehört. Man enthält sich, man kommt sich nur noch vor, aber nicht mehr vor sich.

 

(Vielleicht darf man es auch so analogisieren: So wie Wahrheit als der focus imaginarius innerhalb der Philosophie und Wissenschaft zur inneren Führung des Denkens, Forschens und Interpretierens herhielt und sein Statuszerfall die Wissenschaft in immer noch anhaltende Turbulenzen hineinriß, so erzeugt der Zerfall der Schuld als Ordnungs- und Zuschreibungsbegriff sozialer Handlungen und Beschreibungen enorme Turbulenzen für die innere Struktur der Psychen; der Psychen, nicht der Sozialität: denn die hat sich schon längst eingerichtet in ein System der organisierten Unverantwortlichkeit. Organisierte Unverantwortlichkeit nennt sich zur Zeit übrigens polykontexturale Kommunikation.)

Vielleicht hilft ein Vergleich der soziologisch obsolet werdenden Schuld mit der obsolet werdenden Einlösbarkeit von Schulden, den monetären Schulden im globalen Ausmaß betrachtet. Das Wachstum des Geldes, so sagen es einige Theorien, ist substanzlos geworden und wird nur noch durch Kredite und auf spekulative Weise simuliert. Nicht nur der Staat, auch der Markt muß jetzt zunehmend seine imaginäre Zukunft anzapfen und fiktive zukünftige Gewinne verpfänden. Die Unternehmen und die privaten Haushalte sind weltweit ebenso verschuldet wie der Staatshaushalt. Allein in den USA kommen zu ca. 6.500 Milliarden Dollar Staatsverschuldung in Form von Staatsanleihen und staatlichen Wertpapieren inzwischen fast 10.000 Milliarden Dollar private Schulden in Form von Hypotheken, Unternehmensobligationen, Konsumentenkrediten usw. Die Kosten für diese absurde Verschuldung werden nicht mehr durch produktive Arbeit gedeckt, sondern großenteils durch spekulative Wertsteigerungen. Das fiktive Kapital des Staatskredits und das fiktive Kapital der kommerziellen Spekulation verschränken sich miteinander, die Schulden des einen Sektors werden mit Schulden des anderen Sektors „bezahlt“ und das simulierte Wachstum nährt die Simulation. Bei einer realen Bilanzierung ohne die fiktiven Werte würden in allen Ländern der Erde massenhaft Unternehmen zusammenbrechen.

D.h.: Die weltweite kapitalistische Ökonomie hat dazu geführt, daß die Geldschulden, die notwendig gemacht werden mußten, nicht mehr gedeckt sind durch reale Wertschöpfung. Die gegenseitige Verschuldung der großen Industriemächte USA, Europa und Japan hat dazu geführt, daß keiner der Gläubiger die Schuld des anderen einlösen darf. Die Großökonomie lebt davon, daß die Schulden unerlöst/uneingelöst bleiben: Einlösung/Erlösung hieße rasende Entwertung. Damit es nicht zur Entwertung kommt, muß so getan werden, als ob die Schulden temporäre Schulden sind, also in der Zukunft durchaus eingelöst werden könnten. Die Imagination einer (Gläubiger-)Instanz als Fixpunkt einer Verschuldung ist die Voraussetzung dafür, daß die faktische Uneinlösbarkeit der Schulden ignoriert wird. Oder anders: Das Aufrechterhalten einer möglichen Verzeihbarkeit der Schuld ist Voraussetzung dafür, nicht an der faktischen Unverzeihbarkeit der Schuld zu zerbrechen. Die eigentlich befreiend wirken könnende Unverzeihbarkeit wird nicht genutzt, um von Schuld zu lassen, sondern sie wird mit der Brille der längst hyperfiktiv gewordenen Verzeihbarkeit referenziert; ihr haftet damit ein Makel an, ein Mangel wird sichtbar, der die Aussicht verstopft auf eine Sozialbezüglichkeitsform, in der Unverzeihbarkeit nicht mehr zum Terror des In-der-Schuld-Stehens oder des Sich-schuldig-Fühlens führen muß. Schuld tragen, Schuld auf sich nehmen müßten nicht mehr eingesetzt werden, um dem Individuum mit heißem Eisen eine Schwere des Verstricktseins und eine Dauererinnerung an sich selbst zu verpassen, einzig zum Ziele der Selbstidentifikation. - So wie in der Ökonomie nicht abgelassen wird von der Instanz des Gläubigers, nicht abgelassen wird vom Zwang zu glauben, daß Gläubiger Gläubige sind, so wird in der sozialen Gesellschaft weiterhin noch nicht abgelassen von der Instanz des Verzeihers, damit weiterhin Sozialverkehre über Pflicht, Verpflichtung und Verantwortung geordnet werden. Man kann sich fragen, wann im Sozialen der Zusammenbruch eintritt, wenn sich Individuen immer mehr darauf verstehen, sich nicht mehr verantwortlich zu fühlen, sich nicht mehr zerfleischen ob der Unverzeihbarkeit von Schuld, sich nicht mehr als Zuschreibungszielscheibe zur Verfügung zu stellen – das Wort Sünde soll ja aus der Welt der Bogenschützen stammen: immer dann, wenn der Pfeil das Ziel verfehlte, hatte man gesündigt.

 

Ob nun soziologische Menschen auch als soziale im moralischen Sinne zu betrachten sind oder doch nur eine Fortführung der nietzscheanischen Ästhetisierung darstellen, hängt davon ab, ob man davon ausgeht, Gesellschaft bestehe aus Menschen oder aus dem, was man Kommunikation nennt; hängt davon ab, ob man davon ausgeht, die Gesellschaft werde durch Konsens integriert oder durch Zwang zur Erfüllung von Funktionen; und hängt schließlich davon ab, ob man davon ausgeht, das Individuum sei eine reale oder eine bloß analytische Kategorie zur Selbst- und Fremdidentifizierung.

Nun gut. Hier wird davon ausgegangen, daß sich seit dem 17. Jahrhundert ein Prozeß ereignet, ein Prozeß, der Gott (als die Instanz des Schuldigsprechung und Erlösung) aus der Notwendigkeit heraus- und in die Wahrscheinlichkeit hineinzog, ein Prozeß, der die Modalität „Notwendigkeit“ von wahrscheinlich in unwahrscheinlich wechselte, ein Prozeß schließlich, der die Raumexistenz des Menschen zunehmend in eine Zeitexistenz zu wandeln begann. Die gesellschaftliche Zeitexistenz erfordert neue Formen des sozialen Ordens, etwa, indem man folgendes sagt: „Nicht das Subjekt, sondern die in Ereignisse aufgelöste Zeit gibt der Handlung ihre Identität“ (N. Luhmann, Soziale Systeme, p390). Stärkere Beachtung der Zeitlichkeit von Handlungen, Personen und Kommunikationen verhindert eine dinghafte Verfestigung der sozialen Dimension ebendieser Komponenten. Heute wird, im Vergleich etwa zur alteuropäischen Tradition der Ding-Semantik, viel stärker von der Zeitbedingtheit aller Einstellungen zur Welt ausgegangen; abweichende Meinungen werden nicht mehr so stark als doxa abgetan; die soziale Ordnung ist in der Zeit angekommen, mit ihr also auch ihr Erkennen. Warum soll das nicht auch fürs Ich gelten, für diese spezifische Form des Selbstbezuges eines Individuums?

 


Wie könnte nun ein Wesen aussehen, daß nicht mehr nur soziales Wesen ist, sondern ansatzweise schon soziologisches Wesen geworden ist?

Die junge dänische Schriftstellerin Solvej Balle veröffentlichte 1993 ein Buch, das 3 Jahre später unter dem Titel „Nach dem Gesetz. Vier Berichte über den Menschen“ ins Deutsche übertragen wurde. Der zweite Bericht handelt von dem Menschen Tanja L, die am Basler Bahnhof mit dem Zug abreist und einen Menschen auf dem Bahnsteig zurückläßt, der kläglich zusammenbricht ob des Abschieds. Zitat (p50):

„Tanja L. wußte, wo die Ursache dieser Regung zu finden war. Sie wußte, sie selbst war verantwortlich für das plötzliche Zusammensinken der Gestalt, die Auflösung der menschlichen Form, den zerstörten Körper auf dem Bahnsteig.

Tanja L. war den Vorlesungen an der Juristischen Fakultät der Basler Universität sorgfältig gefolgt. Das Strafmaß für Körperverletzung, die geltenden Bestimmungen für die Feststellung und die Anrechnung von Schuld und der Ermessensspielraum waren ihr bekannt. Sie wußte, daß nicht zum ersten Mal ein Mensch einen anderen Menschen mit aufgelösten Konturen auf einem Bahnsteig zurückgelassen hatte, und sie wußte, daß es für diese Form von Verletzungen keine Bestrafung gab. Für Tanja L. war um 10.53 Uhr die Schuldfrage ein für allemal geklärt. Tanja L. fühlte sich nicht schuldig. Das war kein Gefühl. Es war ein Wissen“ (p51) Zitat Ende.

– Sie fährt dann nach Barcelona, um, wie es heißt, den Schmerz aufzusuchen, ihn zu finden, ihn zu empfinden. Und reist dann weiter umher. Was wollte sie? Zitat (p52):

„Wollte sich Tanja L. von der Schuld befreien, indem sie einen Schmerz aufsuchte, der jenem glich, den sie einem anderen Menschen zugefügt hatte? Eine Form von Selbstjustiz in der eigentlichen Bedeutung des Wortes?

Tanja L. wußte, daß nur Verrückte im Schmerz baden, um ihren Körper zu reinigen. Nicht der Wunsch, sich von der Schuld zu befreien, schickte sie auf die langwierige Suche nach dem Schmerz. Sie wollte ihre Schuld nicht sühnen oder ihre Rechtfertigung mathematisch begründen. Sie wollte keine Strafe, weder himmlischen Sündenerlaß noch irdische Verzeihung. Tanja L. hatte den Schmerz gesehen. Sie wußte, daß es ihn gab, aber sie kannte ihn nicht.“ Zitat Ende.

Suchte sie einen Schmerz (p64), den sie tragen könne, wie man bei den Osterprozessionen Jesu Kreuz irgendein vorgebliches Golgatha hinauftrage? Ein Mann, mit dem sie mittlerweile Bekanntschaft gemacht hatte, antwortet ihr so: „Der Schmerz sei schon lange aufgebraucht. Nach Auschwitz gebe es keinen Schmerz mehr. Das Wort sei schön längst ins Exil der medizinischen Wissenschaften gegangen, wo es noch sinnvoll verwendet werden könne. Aller anderer Schmerz sei Teil der Geschichte“ (p64).

 

Schmerz als Teil der Geschichte, Schmerz nur als geschichtlicher Schmerz, selber nicht mehr schmerzhaft in seinem Ihn-Erinnern. Ist es möglich, sich an Schmerz zu erinnern, ohne auch daran, wer ihn auslöste, ausführte, verursachte? Sind die ritualisierten Foren, Arenen und Konventionen des Erinnerns an Schmerz nur möglich über das Erinnern geschichtlicher Schuld? Braucht es den Schuldigen oder die Schuldigen, damit der Schmerz sich erinnerlich macht? – Wer in der letzten Septemberausgabe ’98 des Spiegel unter der Überschrift „Die Erinnerung der Täter“ den Bericht über Hans Münch, den letzten noch lebenden KZ-Arzt von Auschwitz, aufmerksam verfolgt hat, müßte jetzt strikt verneinen. „Juden ausmerzen, das war eben der Beruf der SS damals“, so Münch. Und: „Das geht ganz schnell, ruhig an einem Platz zu leben, an dem Hunderttausende Menschen vergast werden. Das hat mich nicht belastet“. Und: „Der Tod sei das Erlöschen einer biologischen Einheit“: „Danach kommt nichts“. Auf die Abschlußfrage, was für ihn Auschwitz bedeutet, antwortet Münch: „Nichts.“ Ein Freund, der den Artikel las, sagte, er habe selten einen so großen Schmerz empfunden, eben weil sich Münch absolut nicht schuldig fühlte.

In Peter Weiss' „Die Ermittlung“ macht ein Zeuge, der als Jude Auschwitz überlebte, Schluß mit Schuld. Er plädiert für eine Rücknahme der Anmaßung, urteilen zu können über die, die sich schuldig gemacht haben. Er behauptet, daß es historisch, strukturell, genau so gut hätte sein können, daß die, die „ins Gas kamen“, diejenigen hätten sein können, die ins Gas schickten. Und die, die Massenvernichtung betrieben, hätten selbst massenhaft vernichtet werden können. — Eine böse These, die sträflich offen läßt, warum es denn nun historisch-strukturell dazu kam, daß das kam, was kam. Doch: Mit dieser These hat er meines Erachtens eine richtige Implikation getroffen, nämlich: die Kategorie der Schuld nicht mehr zu verwenden, wenn es um gesellschaftliche Ereignisse geht, die eindeutig nicht mehr interaktionistisch verstanden werden können. Oder umgedreht: Die Implikation sagt, daß die Kategorie der Schuld eigentlich unproblematisch nur noch in beinahe unmittelbaren Verhältnissen des menschlichen Umgangs angewendet werden sollte; denn nur da ist die Illusion der unbemerkbaren eindeutigen Zurechnung noch praktikabel.

These ist also: Für den Bereich gesellschaftlich-historischer Ereignisse und Handlungen ist der Begriff Schuld als Verteiler von Zuweisungs- und Zurechnungsanweisungen für Handlungen, Verhaltungen und auch Erlebnissen nicht passend. Und zugleich: Dort, wo er passen kann, in den oben genannten Bereichen des menschlichen Umgangs, des Im-Team-Seins oder des Intim-Seins, wird er zumeist verknotet eingesetzt: immer dann nämlich, wenn das Begehren nach nichts Benennbarem[3] unerträglich wird und man ausweicht ins Begehren, absolut benannt, bezeichnet, gekennzeichnet zu werden.

 


Gesetz, Schuld, Schmerz - das bis jetzt Gesagte versucht so zu tun, als gäbe es einen ganz besonderen Zusammenhang zwischen diesen Großbegriffen, ein Zusammenhang transkategorialer Art: Das Gesetz als Bindungsform fürs Gesellschaftsgrundlegende; die Schuld als zunehmend verkehrte Bindungsform für das Zwischengesellschaftliche (Individuen/Normen); der Schmerz fürs innere Verhältnis eines Individuums. Das Gesetz also als Abstimmung der Gesellschaft mit der Geschichte und Natur; die Schuld als zunehmend verkehrte Abstimmung der Gesellschaftsmitglieder mit dem Gesellschaftlichen; der Schmerz als Abstimmung des einzelnen Individuums mit den Bedingungen seiner eigenen physischen und symbolischen Existenz.

Was könnte da der Zusammenhang sein, was könnte ihn stiften? Oder gibt es gar keinen Zusammenhang? Wer könnte uns darüber belehren und aufklären?

Nochmals: Schuld ist eine soziale Tatsache, so wie Vertrauen, Erwartungen oder Angst. Die Frage ist nur, ob sozialräumliche Aktome, in denen dies relevant oder gar konstitutiv ist, Sozialräume sind, die auf der Höhe der Vergesellschaftung sind. Der Gedanke ist nun, daß die gesellschaftliche Abstraktion, Differenzierung und Kommunikation einen Zustand erreicht hat, der es ermöglicht, nicht mehr davon auszugehen, daß ein durch seine Haut abgegrenztes oder durch seine jeweilige Zugehörigkeit bestimmbares Individuum Schuld auf sich laden kann. Umgedreht: Daß also all diejenigen, die noch über Schuld soziale und psychische Beziehungen zu erklären und beschreiben suchen, „selbst Schuld sind“, wenn sie es denn noch so machen.

Man muß hier jetzt aufpassen, um nicht falsch falsch verstanden zu werden. Im Zuge der 68er-Kulturrevolution konnte man individuelles menschliches Versagen im kapitalistischen System auf die Gesellschaft rückführen: ‚Die Gesellschaft ist schuld!‘ Die Folge war ein Abbau  persönlichen Verantwortungsgefühls, der subjektive Faktor wurde zum großen Teil geopfert. Als Margaret Thatcher in den 80er Jahren die moralische und ökonomische Renaissance ihres Landes betreiben wollte, tat sie dies daher mit der klaren Einsicht: ‚There is no such thing as society‘: Die Folge war ein Abbau gesellschaftlicher Verantwortung, der objektive, strukturelle oder auch systemische Faktor wurde größtenteils geopfert. Die maximale Einheit dieser Gesellschaftsbeschreibung war das rational sich entscheidende einzelne Individuum.

Zwischen ‚Es gibt kein individuelles Handeln‘ und ‚Es gibt nicht soetwas wie Gesellschaft‘ sollte man nicht wählen und sich nicht entscheiden. Vielmehr könnte es sinnreich sein zu fragen, ob die Gesellschaft mittlerweile einen Grad an Entwicklung erreicht hat, der es ihr gesellschaftsstrukturell erlaubt, von Schuld abzusehen. Man kennt das an sich selbst: Es gibt einen großen Abgrund zwischen dem Wissen in der Literatur, der Wissenschaft, der Kunst, das sich der Frage annimmt, wie weit schon die Wirklichkeit explodiert ist, das Individuum aufgelöst, Selbstbestimmung Selbstverstimmung gewichen ist, wie porös die Haftigkeit der Regeln sind, die sich Gesellschaften geben, also: Wissen von der Unwahrscheinlichkeit gelingender gesellschaftlicher Verkehre, Verständigungen, Einhaltungen und Identifikationen, und dem anderen Wissen des tagtäglichen Lebens, das von Hierarchien, Zuständigkeiten, von Recht- und Schuldigsprechung ausgeht, für das es ‚Das warst du, das war er, das war ich, vorallem: das waren die anderen‘ gibt.

Die Frage wäre also, jenseits eines theoretischen Zynismus oder einer Wiederbelebung dichotomischer Weltbilder, diese: Kann man auf das Syndrom Schuld verzichten, wenn davon ausgegangen wird, daß nicht das Subjekt, sondern die in Ereignisse aufgelöste Zeit der Handlung ihre Individualität gibt?; wenn davon ausgegangen wird, daß die Adresse, die man ist für den Vollzug von Gesellschaft, nichts ist, was auf irgend etwas zurückweist, daß man Ich nennt?

Tucholsky sagte einmal, es gebe keine Schuld (in: Derselbe, Schnipsel. Hg. v. W. Hering u. H. Urban, erw. Ausg., Rein­bek 1995, p292 (Nr.2519)); es gibt nur den Ablauf der Zeit. — Muß man also mit der Zeit beginnen als letztes großes Medium, um dann von da aus die Formenbildung geschichtlicher, gesellschaftlicher und psychischer Art in den Blick zu bekommen? Wenn es stimmen sollte, daß die genuin ökonomische Vorgabe der ‚just in time‘-Produktion sich sozial und psychisch ausgeweitet hat, sich also in den letzten 10 Jahren eine Konsolidierung des alten Marxschen Satzes ergeben hat, des Satzes, daß alle Ökonomie letztlich Ökonomie der Zeit sein wird, und daß an Begriffen wie Kontaktgesellschaft (versus Kontraktgesellschaft), Pointcasting (versus Broadcasting), Erlebnisgesellschaft (versus Arbeitsgesellschaft), und an der Auflösung eher statischer Bindungen (der Arbeitszeit, der Intimbeziehungen, der Wohnorte) und organisierter Einheiten (Gewerkschaften, Parteien, Überzeugungen) ablesbar ist, daß vormals stabile, verläßliche Strukturen ihr resistentes Verhältnis gegenüber Zeitlichkeit auflösen und man sich immer mehr von Fall zu Fall, von Ereignis zu Ereignis, von Zeit zu Zeit, von Kombination, Auflösung und Rekombination, von momentaner Gebundenheit statt kollektiver, allgemeiner Verbundenheit über die Zeit zu retten hat: Warum dann noch im Ich einen erkennbaren Halt ausmachen und die Haltestelle Ich mit Schuld versorgen, damit es sich selbst nicht verwechselt?

Diese Fragen zu stellen heißt eigentlich nur, dafür zu plädieren, bei der Frage nach Schuld nicht mehr davon auszugehen, daß der Schöpfer vor einer Schöpfung steht, in der sein Abbild nicht mehr zu erkennen ist; nicht davon auszugehen, daß er vor zerbrochenen Lebensgemeinschaften, vor List, Betrug und gegenseitiger Unterdrückung steht; und also nicht davon auszugehen, daß der Riß durch alle Beziehungen, aber auch durch jeden einzelnen Menschen hindurch geht im Sinne von (Röm 3,12): „Alle haben gesündigt. Keiner ist gerecht, auch nicht einer“. – Sicher ist zu klären, inwieweit Ungerechtigkeit mit Schuld in Verbindung steht. Geklärt scheint mir aber, daß Schuld als „Als-ob“-Identifikation immer weniger Individuen trifft, je mehr ebendiese sich soziologisch verstehen.

 


(In Christoph Buggerts Hörspiel Trilogie des bürgerlichen Wahnsinns werden u.a. Menschen beschrieben, die töten, weil sie sich schuldig fühlen. Da ist von einem normalen Vater die Rede, der wieder mal an das Bett seines schla­fenden Töchterchens tritt, um sich 10 Minuten an dieser flach ausge­streckten, ruhig atmenden Unschuld zu erfreuen; dem sich dann plötzlich die Frage stellt, ob er überhaupt das Recht habe, sein schwaches, durch und durch von Subalterni­tät und Kleinmut zerfressenes Leben in die nächste Ge­neration hin­ein zu verlän­gern; der dann durch allerlei Selbstanklagen den Spiegel der Scham bis unter die Hirnschale hinauf anschwellen läßt, sich daraufhin entscheidet, daß es so nicht mehr weitergehen könne, aus der Kü­che mit einem Messer zurück­kehrt zur schlafen­den Tochter, ihr mehrmals in den Hals sticht und das hervorschießende Blut in sich aufzunehmen ver­sucht, weil, ja weil er seine eigene Me­diokrität und Schänd­lichkeit in sich zurücktrinken mußte: um die Korrektur eines Makels, nicht um ein Verbrechen habe es sich handeln sollen.

Oder: Die Stationsärztin, die in der Zeitung die kleine Nachricht liest, nach der ein Ob­servatorium dreitausend bis­her unentdeckte Milchstraßensysteme photo­graphiert hat; diese Nach­richt habe nun in ihr einen Sogeffekt erzeugt: Ihr kam es vor, als haben sich diese 3000 Milchstra­ßensysteme ihrer bemächtigt. Seitdem wuchs eine innere Scham in ihr, genährt durch die total vernichte­ten und ausge­lieferten Gesichter abends in der U-Bahn, genährt durch die bis zur Wehrlosig­keit leergesaugten Blicke, genährt durch die geräderten Körper, die sich mit letzter Kraft auf die Wohnun­gen am Stadtrand vertei­len. Gefüllt also mit der Scham über den trostlosen Ernst, mit dem wir un­sere eigene Zerstörung betreiben, mußte sie den 3000 neuentdeckten Gala­xien ein Zeichen geben, daß wir zumindest unsere Verirrung zu durchschauen ver­mögen: Unsere Ehre habe sie retten wollen vor allen, die der zu Fall kommenden Welt von außen zu­sehen. Sie tötete darauf­hin in­nerhalb von 4 Monaten 13 Patienten durch Injektion von Curare: Sühneopfer.

Beide, Vater und Nachtschwester, töteten, weil sie maßlos Schuld auf sich genommen haben. Ihre Maßlosigkeit ist nichts sonderbares, sie ist der Schuld inhärent, solange sie aufs Subjekt umgebrochen wird. In der Schuldübernahme kommt das transzendentale Subjekt, das in sich die Welt birgt, zu sich. Das hat ersichtlich nichts mit der Verfasstheit von Gesellschaften zu tun, wie wir sie gegen Ende des Jahrhunderts vor uns sehen.)

 

Schlußsatz:

Von Emile Michel Cioran stammt der Gedanke, daß in dieser Welt noch nie jemand am Leiden des Andern gestorben sei. Das gilt wohl im großen und ganzen auch für Schuld: daß in dieser Welt noch nie jemand an der Schuld des Andern gestorben sei. Es wäre wünschenswert, wenn immer mehr Menschen es schaffen würden, sich nicht mehr dadurch symbolische Existenz zu verschaffen, indem sie sich selbst gegenüber oder anderen gegenüber schuldig machen. Dringlicher aber wäre es, daß Menschen aufhören, andere schuldig zu sprechen, um Ich sagen zu können. Das Hilfsmittel dafür ist die Anerkennung, daß es die soziale Zeit ist, die das produziert, was man sich selbst oder anderen zumutet. Und diese soziale Zeit erzwingt für immer mehr Menschen, sich das Attribut der Überflüssigkeit anheften zu müssen, sich von der Selbstliebe zu emanzipieren, Subjekt ohne Subjektivität, also monströs zu werden. Ob das eine Befreiung von der Last bestimmter, geschichtlich obsoleter Ordnungsformen des Sozialen und der Psychen sein könnte oder vielmehr das Entrée in ein transgrediertes Überleben, weiß ich nicht zu entscheiden.

 

 

 



[1] Dieselbe, The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of japanese Culture, London 1967

[2] Th. Metzinger, Niemand sein. Kann man eine naturalistische Perspek­tive auf die Subjektivität des Mentalen einnehmen?, in: S.Krämer (Hg.): Bewußtsein. Philosophische Beiträge, FFM 1996, p130-154, hier: p147 + 153.

[3] J. Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse; Das Seminar, Buch II, Weinheim/Berlin 1991 (2. Aufl.), p284.