Interaktionsnahe Überwachung als Utopie (1998)

Bernd Ternes

 

Von Zeit zu Zeit stehen Neubewertun­gen an. Ge­schichtliche Er­eignisse, Persön­lichkeiten, Goldre­serven, aber auch Institu­tionen und Funktionen wer­den dann anders als üblich bewer­tet. Sind und Zweck dieser Wertungen ist es zumeist, den an sich sehr stummen, kommunikations­scheuen und eigent­lich von keinem richtig gewussten Werten einer Gesellschaft etwas Gestalthaf­tes, Greif­bares zu verlei­hen. Neue Informa­tionen tauchen auf, neue Machtverhält­nisse, neue Generatio­nen, die das Vergangene an­ders an die Gegenart anschließen und dement­sprechend die Gegenwart anders rah­men als sonst. Die stärk­ste Moti­vation einer ande­ren Überlieferung ist in dem Spruch zu finden, daß frü­her manches besser war. Daß also in der Zwischen­zeit sich einiges ver­schlechtert hat. Von der sich ver­schlechterten Ge­genwart aus wird eine schlechte Vergangenheit besser.

Wenn man nun ins Auge fasst, daß, wie kürzlich erst eine re­präsentative Um­frage ergab, 65% der Bundesbürger für den Lauschangriff sind; daß jeder Server po­tentiell Zugriff hat auf jede von ihm belie­ferte Festplatte; daß, wie kürzlich berich­tet, die Schweizer Tele­fongesellschaft Swiss­com Milliarden von Daten ihrer Mobil­funk-Abonnenten spei­chert und offen­bar auch an die Polizei weitergibt; daß die Weltanschau­ung des Blockwarts in Gestalt li­beral daherkom­mender Bürger­wehren mannigfach Urständ feiert; daß Banken und Vermieter mittlerweile mit Selbstverständlich­keit vom Kunden Informa­tionen verlan­gen, die man nicht mal seinen besten Bekann­ten erzählt; daß Gesetzge­ber und Polizei das Fern­meldegeheimnis immer stär­ker aushöhlen, weil tech­nisch es ein Leichtes ist, von Mobil­telefonierern vielfältigste Profile zu erstellen; und daß der Strafrecht­ler Jürgen Welp den wirksamsten Schutz des Bürgers vor staatlicher Kontrolle darin sieht, einfach keine Daten mehr zu produ­zieren, also zu schweigen; wenn man dies also fest­hält: Wäre es dann nicht an der Zeit, sich die Stasi noch einmal anders zu den­ken? War die Stasi nicht doch das ein­zig Fort­schrittliche am Sozialis­mus deutsch demokratischer Brauart, weil sie im Kern doch humanistisch blieb in ihrer Organisa­tion der Be­wachung und Obser­vation? War sie nicht geradezu po­pulistisch, weil sie an­schaulich und in den All­tag verwo­ben die Menschen dort ab­holte, wo sie auch standen?; weil sie erst gar nicht so tat, als wä­ren ihre Ak­tivitäten in ein rechtsstaatliches Ge­wand gehüllt, wie es im Westen im­mer noch Routine ist? Waren ihre Son­den nicht auf das Wesen namens zoon politikon ausgerich­tet, also auf den sprechen­den, mündlichen Bürger, wäh­rend der indi­rekte Kapita­lismus seit Herold bloß noch die par­tialen Eigen­schaften des Bür­gers als Konsument, als Leistungsträger, als Kin­derpornofreak, als Schuld­ner oder Terrorist unter Kontrolle halten will? Wa­ren die Hunderttausende von Mitarbeitern, die durch die Stasi in Lohn und Brot standen, nicht doch ge­rechtfertigt ange­sichts der Lage im We­sten, wo der poten­tiell zu Ob­servierende sich selbst in Erreich-Haft zu brin­gen hat durch den Kauf eines Mobiltelefons? – Wenn etwas wirklich vom Ostsozialis­mus hätte übernommen wer­den sollen, dann hätte es die Stasi sein müssen, die Stasi als Projekt einer humanisti­schen Form des Überwachungsstaates. Dies leuch­tet umso mehr ein, wenn man an die Talkshow-Nachmit­tage denkt, in denen der fernse­henden Ge­sellschaft Informa­tionen ange­boten werden aus Pri­vatleben, für die sich die Stasi nie interessiert hätte.

Mit dem Stasi-Projekt "Menschen beob­achten Men­schen" ist wohl der letzte Ver­such gescheitert, ge­sellschaftliche Überwa­chung interak­tionsnah zu gestalten. Die alleingül­tige Form von Ob­servation heißt nun: "Systeme beob­achten Sy­steme". Luhmann kann dafür nichts.