Invasive Introspektion

 

Bernd Ternes

 

Auszug aus der Dissertation

 


 

 

 

 

 

"Dabei hatte alles ganz schlecht begonnen. Was ich hoch­trabend als 'Forschungen' bezeichnete, war das Streben nach einem gewaltigen, in sich unbestimmten Wissen, das jenes bescheidene Gepäck, welches mir meine Studien an die Hand gegeben hat­ten, ergänzen sollte. In Wahrheit war es bloß Vagabundentum. Welche neuen Gebote ich mir auch immer erfinden mochte, stets trieb mich weniger die Lust am Wissen als die Furcht vorm Unwissen, und es kam nichts dabei heraus als ein ängstliches Springen von ei­nem Gegenstand zum anderen. Keiner wurde ausgelassen. Stoße ich heute etwa beim Aufräumen unvermutet auf man­che der Zettel, auf denen ich die Ti­tel und Daten meiner damaligen Lektüre aufgezeichnet habe, so starre ich sie lange verdutzt und ungläubig an: welch eine absurde Ge­fräßigkeit hat mich nur ge­trieben, so viele Bücher zu verschlingen, von denen mir heute keine Erinnerung geblieben ist, nicht einmal die, sie früher einmal in der Hand gehabt zu haben?"

 

Marcel Bénabou, Warum ich keines meiner Bücher geschrie­ben habe, (dt.), FFM 1990, p52

 

 

"Die befristete Täuschung ist unser Teil."

 

Peter Fuchs, Die Umschrift, FFM 1995, p193


1) VORSÄTZE ZUM STAND DES NACHDENKENS

 

 

 

A) Das Dunkel im Rampenlicht

 

Rainald Goetz' Wut fasst die Lage der Zeit und die der Ge­schichte (oder vielmehr des Erinnerns?) des okzidentalen (oder verwissenschaft­lichten) Menschen im Singular sehr gut zusammen: Das Problem ist die extreme Materialferne des theo­retischen Produkts der Analyse des Mate­rials. Unsere Zeit ist die Zeit der (wenn man so sagen darf) Götterdämme­rung ebendieser Ferne des Produkts zum Ma­terial, aus dem es besteht. Aber die Frage ist: Besteht das Produkt noch aus Material? Und: Gibt es noch Material jenseits des Produkts (der Analyse, der Abstraktion, der Synthese)? Oder, diesen Aussageradius teilsystemspezifizie­rend (hört man schon hier Luhmann?): Stimmt es, daß 'Bewußtsein für die Wissenschaft nur unge­ordnetes "Rauschen" ist, unerläßlich zwar, aber auch nicht mehr'?[1] Allent­halben kreist die Erinne­rung, kreist die Aufarbeitung um diesen monolithi­schen Ent­fernungsabgrund, beinahe so wie der Befreier Pro­metheus', der, immer wieder zurückge­worfen von der Welle des Ge­stanks, die Prometheus und der zugeschis­sene Fels verur­sachten, weitere dreitau­send Jahre das Massiv um­kreiste. Der Effekt dieses Umkrei­sens und Aufschiebens der Befrei­ung: Gewöhnung, und zwar dynamische. Denn der Gestank nahm zu in dem glei­chen Maße, wie der Befreier sich an ihn ge­wöhnte.

Freilich wird diese Gewöhnung an den Gestank (d.i. das selbstprodu­zierte Elend einer sich mittlerweile nur noch kapitalistisch organi­sierenden technologischen Zivilisa­tion), wird diese wachsende annäh­rungslose Vertrautheit mit dem geschichtlich Ausgeschiedenen, wird schließlich die endlos benötigte und deswegen nie mehr endlose Zeit, um ans zu Befreiende (als letz­ter Mythos) zu gelan­gen, nur dann ein­sichtig, wenn klar ist, daß keine Zeit mehr zur Ver­fügung steht für einen Zeithori­zont, der die Ignoranz deckt, daß der, der ausscheidet, nicht wahr haben will, daß er der ist, der ausgeschieden wird.

Zuletzt hat noch Peter Furth eine prägnante Enttäuschungs­landkarte an­gefertigt für die Zeit des nicht abzusehenden Aufenthalts in dieser Wüste zwischen Erwartung und Gewärti­gung, die vorallem für die Utopie­amputierten enorm gewach­sen ist. Seine nachtotalitäre Ideologiekritik hält fest an der Ambivalenz des Ent-täuschens, also fest an einem Be­griff der Approximation: nicht mehr in Richtung Revolu­tion, auch nicht mehr in Richtung Wahrheit, sondern in Rich­tung des Begreifens der ei­genen Befindlichkeit, das sich nicht wieder als Material für eine Ver­rechnung des Jetzt ange­sichts zukünftigen Heils einspannen läßt. Er schreibt: "Am Ende dieses Jahrhunderts nun ist die Erfahrung nicht mehr zurückzuhalten, die besagt, daß zur Rationalität Angst und Schrecken gehört und Grausamkeit, daß sie nicht hell und durchsichtig, sondern dunkel ist, daß sie nicht zwang­los den Menschen begegnet und sie leicht mit sich nimmt, son­dern daß sie unwiderstehlich wie ein Schicksal ist. Das können wir heute, am Ende des Jahrhunderts der to­talen Mo­bilmachungen durch eine sicherlich massenhafte, unschein­bare, jedem Nachdenken widerstehende Erfahrung wissen". Und: "Was ist ge­schehen und was geschieht, wenn die Erinne­rung dem sich Erinnernden seine Fremdheit mit sich zeigt?" Und schließlich: "[...] wenn wir uns als Gewesene nicht ver­stehen, können wir dann noch vernünftigerweise uns als Wer­dende verstehen wollen? Ein Rationalismus ohne die Anerken­nung seiner dämonischen Schattenseiten erzeugt Obskurantis­mus und, schlim­mer, Depression"[2]. Wem der letzte Satz zu hart klingt, dem bie­tet Cornelius Castoriadis eine beinahe optimi­stische light-Version an[3]: "Die Un­möglichkeit, aus den be­grenzten Entwicklungstendenzen einen einheitli­chen Determi­nismus des Gesamtsystems Geschichte zu konstruie­ren, ist nicht aus der Komplexität der sozialen Materie zu erklären, sondern aus dem Wesen des Gegenstands Gesellschaft: das heißt aus dem Umstand, daß das Gesellschaftliche (oder Ge­schichtliche) als wesentli­chen Be­standteil Nicht-Kausales enthält".

 

 

B) Das verspielte Ausleuchten von Welt

 

Es geht also um Anerkennung, daß man geschichtlich verloren hat und jetzt in der frei flottierenden Zeit verloren ist, genauer: daß die, die auf das Pferd gerichteter Zeit setz­ten, um mittels Entzauberung des Heiligen ebendieses Hei­lige spurlos im Profanen zu versenken, und daß die, die glaubten, der innerweltliche Zukunftshorizont der Moderne könne die vertikale Ausrichtung auf Transzendenz eben in dem Maße be­wältigen, wie der Zukunftshorizont diese Aus­richtung horizontal auf­hebt (nämlich durch beständige Ver­vollkommnung des Wissens, des Gemein­wohls, der Naturaneig­nung), verloren haben und verloren sind (so je­denfalls sieht es Giacomo Marramao). Es geht um Anerkennung der Nöti­gung, all jene Begriffe abzuschreiben, die soviel so­ziale Symbolik vermittelten, daß völlig aus dem Sinn ge­riet, wie abhängig sie an den Mythen des Fortschritts und der Revolution, an der Futurisierung und der Entwerfbarkeit der Geographie und der Historie befestigt waren, aber auch aus dem Sinn geriet, daß das Entfernen der Vielfalt und Wi­derständigkeit des Materials (der Natur, der Geschichte, des Selbst) mittels der Materialferne seiner abstraktifi­zierenden Zurichtung, also mittels der Realisation des Ab­strakten, die gefährlichste praktikable Illusion war, die sich die Moderne leisten konnte. Die Effekte sind heute, d.h. seit gut einem viertel Jahrhundert, von Tag zu Tag im­mer deutlicher zu besichtigen (man wandert sozusagen via TV-Sonde in den eigenen verfaulenden Röhrensystemen innerer und äußerer Natur umher und liegt doch die ganze Zeit auf dem Operationstisch). Das Vernich­tete der Ökolo­gie, der Sinne, des Körpers, der Verständigung und des Ar­tikulationsvermögens ist al­les andere als Abfall und nich­tig, will sagen: alles andere als end­gültig kontextbefreit und auf Sonderdepo­nien, in Gewaltausbrüchen, in Talkshows und auf dem Arbeitslosenamt abladbar. Das Gegenteil scheint der Fall: Man kommt beinahe nicht um­hin, den der ziel- und zweckge­richteten technologischen Zivilisation inhärenten Ausscheidungen und Defekten der Natur, der Gesellschaft und der Psyche eine Art konspirative Or­ganisiertheit zu unterstel­len, so als gäbe es nicht nur eine Akkumula­tion des Ab­falls, sondern auch eine Emergenz, gar eine Synthese des­selben (manche sprechen schon von Ra­che resp. von einer negativen Gleichzeitigkeit des eindimensionalen Welt­systems[4]). Fakt ist, daß die gesellschaftliche Exkorporation des Todes seine höchste Stufe erreicht hat: die planetare Dimension. In dieser drängeln sich die 'Defekte' mittlerweile titanenhaft. Die­ser Dimension kommt keine Analyse etwa des Umbaus der Indu­striegesellschaft, keine Analyse der Reorga­nisation der Be­ziehung zwischen Produktivkraft und Produk­tionsverhältnis, auch keine Analyse emanzipativer Poten­tiale in der Theorie als Voraussetzung der Entfaltung dann empirischer mehr nach (auch Castoriadis' reformulierte Praxisphilosophie nicht); des­weiteren auch keine Analyse des Projekts einer Umschrift psychischer Welten in rein kommunikative, wie es Peter Fuchs anstrebt. Die­ser Befind­lichkeit der inneren und äußeren Öko­logie der Men­schengattung kann nur noch die Frage gerecht werden, die für die Mög­lichkeit des Austritts aus der wis­senschaftlich-technologischen Kultur Antworten sucht, einer Kultur, die sich via des "absoluten Geistes" namens Welt­markt über alle menschlichen und nichtmenschli­chen Gesell­schaften der Erde ausge­breitet hat und, an ihrem logisch anderen Ende, zur globalen Rationa­lisierung auch der natür­lichen Materie führte, de­ren ihr zugefügten Patho­logien in ihrer Vernichtungsgewalt die letzte große Einheit der Gat­tung ausmachen (und dabei in Jahrhunderten aufge­baute und "gewachsene" Differenzierungen kultureller, gesellschaftli­cher und wirtschaftlicher Art mit einem Schlag zur Indiffe­renz verdam­men; mit der zur Zeit anhaltenden Renationali­sierung, Reethnisierung etc. erle­ben wir das wilde Umher­zucken eines angeschossenen Tieres, auf dem 'Europa' sitzt).

 

 

C) Die Laterne kommunikativer Rationalität: Wem spendet sie Licht?

 

Was aber ist mit der kulturellen Moderne, auf deren lebens­weltliches Rationalitätspotential die Theorie des kommuni­kativen Handelns setzt? Was setzt sie dieser planetaren ne­gativen Identität, dieser geschlos­senen Rache des Ausge­schiedenen entgegen? Aus der Sicht kommunikativer Vernunft[5] sind ja die kognitiv-instrumentelle Verfügbarmachung einer objektivierten Natur/Gesellschaft ebenso wie die zweckra­tionale Selbstbehauptung im Gewande subjektiver Selbstver­wirklichung bloß ab­geleitete Momente, die sich gegenüber einer durch kommunikative Struk­turen geprägten Lebenswelt, gegenüber der Intersub­jektivität von Ver­ständigungs- und Anerkennungsverhältnissen einfach, dafür aber un­glaublich rigide verselbstständigt haben.[6] Subjektzen­trierte Vernunft, so Jürgen Habermas, ist Produkt einer Abspaltung und Usur­pation, und zwar ei­nes gesellschaftlichen Prozesses, in dessen Ver­lauf ein untergeordne­tes Moment den Platz des Ganzen ein­nimmt, ohne die Kraft zu besitzen, sich die Struktur des Ganzen zu assimilieren. Die­ses Vereinnehmen durch eine ver­dinglichte und verdinglichende Subjek­tivität sei nun nicht, wie Horkheimer und Adorno ebenso wie Foucault fälschlicher­weise annehmen, genau der irreversible weltgeschichtliche Hauptvorgang, so wie wir ihn heute allenthalben besichtigen können, denn: Die tiefe Ironie dieses Vorgangs bestehe darin, so Habermas wei­ter, daß das kom­munikative Vernunft­potential in den Gestalten moderner Lebenswelten erst ein­mal entbunden werden mußte, damit die entfessel­ten Impera­tive instrumenteller Vernunft auf die verletzte Alltagspra­xis zurückwirken und dabei dem Kognitiv-Instrumentellen zur Herr­schaft über die unter­drückten Momente praktischer Vernunft verhelfen konnten. Das kommunika­tive Vernunftpoten­tial wird also, so Habermas, letztlich im Ver­laufe der ka­pitalistischen Modernisierung sowohl ent­faltet als auch ent­stellt. Mit diesem 'sowohl als auch' sei also ein Stra­tum vorhanden, das nicht durch die auch noch so fi­ligranen Infil­trationen instrumenteller Rationalität konta­miniert ist. Es gelte, die Seite der blockierten, der ge­hemmten Entfaltung stärker ins Auge zu fassen und die for­malpragmatischen Bedingungen zur Ermöglichung einer Entfal­tung kommu­nikativer Vernunft in der herrschaftsfreien Rede zu eruieren. Das Mo­ment einer nichtgewaltsamen, einer tran­szendentalen Vernunft liege im Substrat der formalpragmati­schen Verständigungsbe­dingungen der Men­schengattung gebor­gen. Das Elend der gesellschaftli­chen Vergangenheit und Zu­kunft sei demgemäß nicht auf ein Zuviel an Rationalität, sondern auf ein Zuwenig bzw. auf eine halbierte Rationa­lität und deren Ge­staltwerdung rückzuführen. Da nun das Ge­webe kommunikativer Hand­lungen sich aus lebensweltli­chen Ressourcen speist und gleichzeitig das Me­dium bildet, durch das sich die konkreten Le­bensformen reprodu­zieren, behält die kommunikative Vernunft konstitu­tiv einen reagieren­den bzw. einen erwidernden Charakter. Ihre Eigen­art ist es, sich bei Übergrif­fen durch eine systemische Ra­tionalität nicht widerstandslos zu erge­ben (vorausgesetzt, man hat sie weiter entfal­tet); sie ist je­doch nicht in der Lage, selbst expansiv auf die schon systemisch durchratio­nalisierten Be­reiche instruktiv einzuwirken: Ihr bleibt da­für nur die ne­gative Dialektik in Gestalt expansiv zunehmen­der Patho­logien der kulturellen, kommunikativen und sozialisatori­schen Repro­duktion, durch die symptomatisch angezeigt wird, daß etwas in der Do­sierung der Handlungs- und Verständi­gungskoordination schief läuft. Kurzum: Die Theorie des kommunikativen Handelns weist dem verständi­gungsorientierten Handeln die Vermittlungsfunktion zu, durch die die vernünftige Praxis als eine in Ge­schichte, Gesellschaft, Leib und Sprache sich konkretisierende Vernunft einzig begreifbar werden kann. Über­gehe man diesen Ort der Vermittlung entweder rückwärts mittels eines neuen Aufgußes der Subjekt-Objekt-Beziehung, in der es nur Aneig­nung und Enteignung gebe, oder aber vorwärts mittels eines endgültigen Ab­lassens vom Begriff Gesellschaft und dem An­erkennen einer nicht mehr zu fassenden Hyperrealität, oder schließlich abwärts mittels einer Theorie, die gar nichts mehr mit dem Begriff Vermittlung anzufangen weiß, sondern nur noch mit operational geschlossenen, sich auto­poietisch reproduzierenden, sich "gegenseitig" irritierbar haltenden selbstreflexiven Systemen arbeitet, wie es etwa Luhmann tut, dann bleiben, so muß man Habermas verste­hen, nur noch die von Furth ange­führten Alternativen: Obskurantismus und Depres­sion.

Das Ablassen vom Begriff Arbeit als Rahmengeber gesell­schaftlicher Praxis und das Einschwenken in die Bahnen der soziokulturellen, der symbolischen Reproduktions- und Pra­xisbedingungen mag tröstlich er­scheinen und manchem Aus­blick verschaffen für die mühevolle Weiterar­beit an der Vervollkommnung des Projekts der Moderne. Man muß auch nicht wieder und wieder den polemischen Wortwechsel wieder­holen, wer nun das emanzipative Potential der Moderne ver­rät und dementsprechend unterkomplex argumentiert: Derje­nige, der noch auf eine essentielle Differenz zwischen un­abgegoltener Vernunft der Moderne und der Gestalt der Mo­derne pocht, oder derjenige, der in der gestalteten Moderne de­ren Vernünftigkeit als zu sich gekommen (und damit nur noch Desaster) sieht. Sieht man es für heu­tige Verhältnisse vielleicht etwas außer der Mode so, daß die Moderne letzt­lich immer noch am besten als eine ökonomische (also als eine noch kapitalistische) Gesellschaftsfor­mationszeit be­griffen wird[7], ohne allerdings das Eigenverhalten, den Ei­genwert und den Systemcharakter der soziokulturellen Re- und Produk­tion in Abrede zu stellen, aber auch nicht ihre Begrenztheit als Er­klärungs- und Verstehensgröße außer Acht zu lassen[8], dann kommt man, vielleicht etwas grobschläch­tig, zu anderen An­sichten. Etwa zu der, daß alle Hürden, die der Prozeß der kulturellen Moderne aufstellen konnte oder - vorsichtiger ausgedrückt - aufstellen könnte, um das Übereinanderherfal­len auf den Markt zu beschränken, als längst über­wunden zu gelten haben: Dies nicht, weil diese Hürden etwa nicht über­sprungen und damit als Institutionen nicht legitimiert worden wären (gerade heute werfen sich die professionellen Gesell­schaftsdeuter mit Vehemenz auf die Kultur), und auch nicht, weil sie immer wieder aufs neue auf­gehoben worden wären. Nein: Die Hoffnungen auf den kul­turellen Zusam­mensatz des gesellschaftlichen Menschen sind deswegen perdu und als Ba­sis für dessen Zusammenhalt obso­let, weil sich heraus­stellte, daß die Laufbahnen, auf denen Hürden installiert zu sein scheinen, solche der in sich hete­ronomen Freizeit und nicht solche der Arbeit sind.[9] Daß sich Arbeit Stadien erlaubte, in denen Freizeit exeku­tiert wer­den konnte, er­scheint nur noch mit dem Attribut 'epochal' richtig gedeu­tet werden zu können. Die Laufbahnen draußen in der gesellschaft­lichen Praxis haben keine Hür­den, allenfalls solche in Gestalt der Zurück­gebliebenen, der Umgefallenen und Zertrampelten, die auf den Bahnen der Markt- und noch-Sozialstaat-Gesellschaft herumliegen und über de­ren Sanie­rung die kommunikative Vernunft herr­schaftsfrei räso­nieren möchte. Will sagen: "Weder als Staatsbürger- noch als Marktsub­jekt kann das moderne Indi­viduum des warenproduzierenden Systems seine Krise mehr be­wältigen, mögen seine Ideologen auch immer neue Worte kre­ieren, um die sie noch nie verlegen waren".[10]

Akzeptierte man, daß der abstrakte Universalismus okziden­taler Ratio­nalität sich einzig als bloßer Reflex der ding­lichen Realabstraktion des Geldes decouvriert[11], und diese Realabstraktion in einer überschla­genden Totalität mittler­weile auf die Implementation konkre­ter Arbeit, auf die Im­plementation des Besonderen angewiesen ist, des­sen noch nicht ganz nachvollziehbare neue Vernutzung in den Prozes­sen der Verdingli­chung zur Zeit als comeback des maoisti­schen "Laßt tau­send Blumen blü­hen" ideologisch mit Hoffnung aufgefüllt wird, dann könnte man sich ohne weiteres folgen­dem Statement Bernhard Giesens an­schliessen, näm­lich[12]: "Während Codes in traditionellen Gesellschaften die Einheit disparater Teile zu er­zeugen hatten, geht es in postmoder­ner Lage eher um die Erzeugung des Anscheins von Vielfalt in einer Ge­sellschaft, die einheitlich geworden ist. Frei­lich: Kulturelle Viel­falt kann dabei nur den Anschein der konkreten Dinge erzeugen und bleibt - genau besehen - eben auch nur eine Codierung. Was dann bleibt ist die Erkennt­nis, daß diese Trauer nicht heilbar ist". Man erinnert sich eben nur noch daran, den roten Faden verloren zu haben, nicht mehr daran, was genau es war, das sich durch die Ge­schichte ziehen lassen sollte.[13] Genau das verhindert, das Ganze (der Geschichte) wie­der logisch "hinzubekommen"; denn wäre dies möglich, dann träte der Zwang wie Phoenix aus der Asche, nach einem tieferen Sinn suchen zu müssen; und die­ses Suchen bzw. dieser Sinn wäre dann nicht mehr anders zu kontextualisieren, als es Richard Rorty in einem impliziten 'Entweder oder' vorführte: Entweder Demokratie oder Philosophie resp. Transzen­denz.[14]

 

 

D) Ist Desintegration organisierbar?

 

Die Welt ist aus den Fugen. Diese Einsicht ist nicht neu. Neu ist oder war, diesen Tatbestand so zu deuten: Sie ist endlich die Fugen los; also als einen Akt der Befreiung vom Identischmachen zu sehen. Jede Befreiung aber hat ihren Preis, der zumeist erst ex post herausgefun­den wird. Der Preis des Nicht-mehr-Fügens ist, daß Freiheit aufhört, eine (syntaktisch gesprochen) zweiwertige Relation zu sein: Es heißt dann nicht mehr frei von oder frei zu, sondern nur noch: Freiheit aus­halten (Richard Rogler).

Heute, nachdem für den sozialen Raum viele "positiven" In­klusionsformen und Identitäten (wie Solidarität, Klasse, Bürger, Steuerzahler, Genos­sen, Wähler etc.) ihre histori­sche Zeit hinter sich gelassen haben (zumindest auf der Me­taebene), scheint sich Aushal­tung als letzte Form des Zu­sammenhalts psychosozi­aler und individueller Räume (und noch mehr: Zeiten) massivst auszu­breiten; der Zusammen­halt dessen, was sich da millionenfach mit der ersten Person Singular bezeichnet, ist nur ein negati­ver. Massengesellschaften scheinen mit ihrer Produktion von Gütern, Infrastrukturen und Verhaltensformen für die Masse nun auch beim Wahnsinn als Gut für die Masse angekommen zu sein, vorausgesetzt, man versteht Wahnsinn als Zustand, "den begriff ich gebrauchen zu müs­sen;- und auch: den begriff ich nicht mehr gebrauchen zu können."[15] Positive Bestim­mungen des eigenen Selbst, des Selbst­bewußtseins können nicht mehr greifen, da sich diese Inklu­sionen gleichsam als "falsche Seite" des Ichs herausge­stellt haben: die falsche Seite der Verwechs­lung von Zu­sammensatz und Zusammenhalt. Solange der "Satz" einigerma­ßen komplett darstellbar war in einer auf Verdrängung und auf Ver­richtung von Ar­beit fi­xierten Kultur sowie in Konventionen der Kopp­lung des Ichs mit Leistungen der Arbeit, der Sexua­lität, der Sozialreve­nue und der Be­zahlung, solange konnte diese Setzung (als) Halt fingieren (noch beobacht­bar bei der Trümmergenera­tion). Anders bei denen, die wis­sen, das jede Verkopplung des Ichs mit: Biographie, Sozialreve­nue, Leistung, Bil­dung, Selbstkritik, Sex, Gedanken oder gar Weltbildern im­mer und immer nur eine Verkopp­lung auf Zeit ist (die also ihr Nicht­wissen um die Nichtvorhandenheit eines Ich-Selbst verlo­ren haben und das nicht mehr vergessen können): Unbefrag­bare Identität als Ausnahme (in Mo­menten). Übrig bleibt die Lokalisierung einzig ent­lang einer höher­stufigen Konti­nuierung der Abbrüche und Unter­brechungen, entlang einer nur ausnahmsweise unter­brochenen Per­manenz des sich Fremdseins, ent­lang einer Un­wahrscheinlichkeit von Nullsum­men ergeben­den Gleichungen zwischen mir und dem, der dieses "mir" (nämlich ich) be­denkt bzw. re­flektiert.

Angst zu haben davor, mit einer selbstgewissen Identität, die von an­deren beobachtbar ist, zu scheitern, wechselt seit gut einem Jahrzehnt mit der anderen, breiteren Angst, eine gewisse Identität zu besitzen, die man selbst vor sich und dann auch vor anderen zu vertreten und zu verantworten hätte: Identität als Gestalt der eigenen Formgebung wäre die Katastrophe, nicht mehr die Abwesenheit von Identität. In diesem Wechselspiel von Haben und Nichtha­ben, Sein und Nichtsein, Ich und Nichtich hat sich, da eine klare Posi­tion, eine klare Station bis auf weiteres nicht mehr installierbar zu sein scheint, die Angst als ex­terne Klam­merung des "eigenen" Amalgams aus Fremd-, Selbst- und Erin­nerungbild einge­spielt, als die sich selbst einbringende Unterschei­dung von Welt, die als die eine Seite die andere notwenig macht: Nichtangst. Nicht­angst wäre dementsprechend die Abwesenheit nicht von Angst, aber des Dranges nach Identität. Zur Zeit entschlagen sich je­doch die meisten Menschen aus Angst des Wunsches nach einer Identität als Abwe­sendheit von Identi­tät, und landen glücklos in einem Kreislauf ohne Ende: Je mehr sie von sich Abstand nehmen, beziehen sie sich auf den, der Ab­stand nimmt, und nicht auf das, was sie in einer Leere zu­rückliessen. Je mehr sie aber Leere auffüllen, de­sto stärker wird die Angst, die dieses Vakuum be­setzt; de­sto bemerkbarer (Schmerz zumeist) wird hinge­gen das Vorhan­densein eines Ichs (als schmerzendes); desto größer also der Drang, Abstand zu neh­men. Abschied zu nehmen vom "eigenen" Markt-, Konsum- und auch Verzweiflungs-Ich scheint in dieser abendländischen Kultur wohl nicht mehr erlernbar (und der ferne Osten ist fern[16]). Also bleibt nur: Sich, also diesen immer selben Anderen, aushalten, und das auf einem Niveau, wo Konstanz ein­zig in einer immer höheren Quote an Auflösungs- und Rekombinationsmög­lichkeiten sich dar­zustellen hat, als eine wirkliche Latenz, als eine wirkliche Virtuali­tät, als je­derzeit sich anders zusammensetzender Zu­sammensatz. Körper geben also keinen Halt mehr. Aber sie bilden Sätze, machen Sätze (also: springen).

Es scheint vielversprechend, Verknüpfungspunkte auszuma­chen, die das Aushalten (des Selbst, der Freiheit, des An­deren) wenn nicht "logisch", so doch soziologisch mit einem Aufhalten (im Sinne von Of­fenheit, nicht im Sinne von Stoppen) in Beziehung setzt. Die Erfahrung der Geschichte läßt dies jedoch kontraintuitiv werden: Identität bil­dete sich bisher über Aus­scheidung, nicht über "Aufwartung". Die Ge­schichte der Abfolge eines eingeschlossenen ausgeschlos­senen Dritten über das Sakrale (als Ver­mittlung des Munda­nen und des Dämonischen), über das Sä­kularisierte (als Vermitt­lung der Polis und des Nomos), über den Staat (als Vermittlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen), über die Infor­mation (als Vermittlung des Bewußtseins und der Materie) und über den Markt (als Vermittlung zwischen privater Produktion und gesell­schaftlicher Konstitution), kurz: Die Geschichte der Ab­folge von Gestalten des Prinzips Tausch wirkt immer noch ohnmächtigmachend in Vorstellungen hinein, die sich vom Zwang zur Resurrektion des Verein­ten im Kom­pensat der Tren­nung freizumachen suchen. Den daraus fol­genden Zustand be­schreibt Friedrich Stenzler mit der nötigen Prägnanz so[17]: "Aber Ge­trenntsein ist heute ein Zustand, in dem der Ge­trennte nicht mehr an­zugeben weiß, wo­von er ge­trennt ist, wie der Verlassene nicht mehr weiß, von wem und wovon er verlassen ist". Und, in einem Satz die Systemtheo­rie in ih­rer diesbezüglichen Impotenz fassend (p12): "Ein System mag entlasten, aber auch es füllt nicht das 'trennende Nichts'".

Das trennende Nichts; die wachsende Wüste zwischen Erfah­rungsraum und Erwartungshorizont; die mit Leichen übersäten Laufbahnen der Arbeits­gesellschaft-Moderne; das Frei­heitaushalten als einziger Modus des Si­chenthaltens in dem, was nicht mehr Identität genannt werden kann: Das sind die Merkposten, die es strikt verbieten, immer und immer wieder aus der Ausweglosigkeit der anderen, aus ihren Ausweglosig­keiten her­auszufinden, lernen zu wollen[18], denn auch das ist mittlerweile längst der Unterhaltung als hegemoniales Welt­prinzip und Fortsetzung der Ver­drängung (und Verla­chung) subsumiert worden.

 

 

E) Aus-Sichten

 

Die Vernichtung der Sorgen - hieß das Projekt der Aufklä­rung.

Die Entsorgung der Vernichtungen - so wohl das Projekt der Zukünfte.

Entsorgung gibt es aber nicht - genausowenig wie Versor­gung. Die Vor­stellung, die "letale" Kopplung von Entschei­dung und Ausscheidung, Se­lektion und Elimination befreiend zu brechen, erscheint mir absurd; sie wird nur erbrochen werden (und die beginnende Faschisierung sind die ersten erbrochenen Brocken, mag auch der Kommunitarismus noch stark Alternativen anbieten). Die Ausscheidungen der letz­ten sagen wir 500 Jahre sind das letzte große, furchterre­gende Geheimnis, das der gesellschaftlichen Zukunft aufge­geben ist. Die Zersetzung des Ausge­schiedenen (und voral­lem: das Unzersetzliche; hier hätte die Psycho­analyse ihr Feld) muß erforscht werden. Nur weiß niemand, wie es an­zustellen ist, nicht mehr das Abgesonderte in die Gesell­schaft zu in­tegrieren, sondern diese ins Abgesonderte, ohne dabei a priori der nichtmodernen Barbarei die Türen zu öffnen.

Aber dieses Nichtwissen ist der wichtigste Posten, den man heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, wissen sollte (auch wenn man es nicht mehr hören, geschweigedenn nicht mehr le­sen kann)[19].

 

 

P.S.: In dem für meine Ohren genialen Radio-Hörstück "Brut" von Ma­thias Zschokke (ursprünglich ein Theaterstück, fürs Radio bearbeitet und in Szene gesetzt von Jörg Jannings), die trefflichste und weitum­spannende Allegorie auf die Rat-, Lust- und Orientierungslosigkeit des Denkens und der Zeit, die ich kenne, fragt der Steuergehilfe den (blinden!) Steuermann des Piratenschiffes, das seit etlichen Tagen nur noch im Kreis segelt, ob nicht auch er das Schiff steuern könne (was er faktisch schon tut, nur kein Bewußtsein davon hat). Der Blinde be­jaht lakonisch. Darauf fragt der Ge­hilfe, wozu man ihn, den blinden Steuermann, dann noch brauche. Dieser antwortet: "Ich bin überflüssig. Wir alle sind überflüssig. Bei mir ist es nur am sichtbarsten".

Sichtbar machen, wie blind man ist, ist wohl so überfällig wie noch nie.

 

 


2) VORSÄTZE ZUM STAND DES ANSCHLUSSES BEIM NACHDENKEN: SIEBEN[20] HER­AUSNAHMEN, AUF DENEN SICH DIE ARBEIT AUSNIMMT

 

 

 

A) Wissenschaft bleibt in der Welt

 

Ein anderes Sich-Hingeben als das einer Frau (wobei diese nicht das Subjekt, sondern Objekt, besser: Adressatin der Begierde ist) kommt mir nicht in den Sinn. Infolgedessen kann das nachfolgend Geschriebene nur Teil der Welt sein, in der ich lebe, nicht aber diejenige, in der ich lebe - was un­erquickliche Konse­quenzen mit sich führt, da glei­cherhand "Wissenschaft" mir nur als Lebensweise vorstellbar und Um­berto Eco mir "Paradigma" ebendieser scheint.[21]

 

 

B) Anachronismus der Welt des Schreibtisches

 

Desweiteren einschränkend ist in einer mehr rationalisti­schen Manier die Tatsache, daß das Vorhaben, einen zumin­dest nicht allein auf der Ebene der Formulierung neuen Kom­mentar zur Lage des Menschen und des­sen wissenschaftlicher (Er-)Fassung abzugeben, durch die empirische Alleinheit am Schreibtisch, also durch die A-Dialogizität des Verfer­tigens von Gedanken bewerkstelligt wird (die auch durch einen breiten inneren Dialog mit den Texten nur "übertönt", nicht aber aufgehoben wird); es wirkt anachronistisch und vielleicht auch ein wenig belä­chelbar, von seinem Schreib­tisch aus das überblicken und in Zeilen einfangen zu wol­len, was in einer beinahe ontologoiden Form als kom­plex bzw. hyperkomplex bezeichnet wird: Nämlich die Welt, sei es die der Wirk­lichkeiten, die der Wissenschaften, der Künste oder der Vergangenhei­ten (aber auch der Zukünfte?). Die der Autoren­schaft Hülle verleihende Form des am-Schreibtisch-Sitzens mag also dazu verführen, durchs weite Land der eigenen "Hoffnungen" zu reisen und die Welt da draußen (auch die der Texte) als bedauerlichen Irrtum der Geschichte, die Welt im Kopf hingegen als die eigentliche Absicht derselben zu be­deuten.

 

 

C) Die Selektivität des Zugangs zur Welt

 

Zum dritten beschränkt sich diese Arbeit, indem das, was sie sagen will, ausschließlich in einer Form der Lesbarma­chung lesbar gemacht wird, nämlich in der der Schrift, und auf diesem Kontinent der Schrift sich nur auf eine "Gattung" bzw. auf ein "Genre" kapriziert: die monothemati­sche Abhandlung. Mit diesem Lokalisieren des hiesig Ge­schriebenen innerhalb einer Spannbreite von Lesbarmachungs­weisen (vergleichbar Nelson Goodmans Weisen der Welterzeugung) soll also die soge­nannte Selektivität der gewählten "Bezeichnungsorganisation" bezeich­net werden (es gibt die musikalische, die literarische, die bildhaue­rische, die filmische etc.; und zwischen ihnen besteht keine Hierar­chie bezogen auf das, was bezeichnet werden soll, sondern allen­falls eine in ihrer jeweiligen Fähigkeit, Komplexe zu ent­trivialisieren); und es soll gezeigt werden, daß sich diese Selektivität in der Wahl einer bestimmten Darstellung der Bezeichnungorganisation fortsetzt (quasi auf unterem Ni­veau). Es könnte also, um zu verbeispielen, durchaus mög­lich sein, daß das zu Bezeichnende (also das Thema, das, um das es geht) "besser"[22] in der Bezeichnungsorganisations­form Thea­ter oder in der des filmischen features oder auch in der einer akusti­schen Gedankenlandschaftsskulptur (in An­lehnung an Bill Fontana) aufgeho­ben wäre. Und es könnte, hat man sich wie im hiesigen Falle für das "Medium" Schrift entschieden, gleichsam möglich sein, daß innerhalb dieses Mediums ein Roman, ein Sprech-comic, ein Essay, eine Dokumenta­tion oder ein "waste-booking"[23] dem Gemeinten mehr an Lesbarkeit[24] abge­winnt denn hiesige, zur Ausführung ge­brachte étude. Es ist der Ein­sicht also Rechnung zu tragen, daß keine Textform aus sich heraus eine (semiotisch oder semantisch) logische Nähe zu bestimmten Weltkon­texten er­stellt, vorausgesetzt man schafft es, alle vorhandenen Texte als Re­präsentationen eines "Totalitätscharakters von Sinn" (Jochen Köhler) zu be­stimmen, deren gemeinsame Aufgabe darin be­steht, sich via Problemati­sierung an dem abzuarbei­ten, was durch die Zentralität der Ordnung von Sinn von ebendieser ausgegrenzt wurde und nun als Wider­ständiges sich wieder in den Innenzonen der Orientierungstexte als Problem bemerkbar macht.[25] Diese abarbeitende Problematisierung ist freilich nur paradox zu haben: Sie müsste einem gedanklichen System entspringen, das es selbst betreffende Probleme und Fragestellungen hervorbringt, die als zwar richtige, jedoch völlig unerwünschte Pro­bleme und Fragestellungen des fehlerfreien Systems behandelt werden: Das System müsste sich damit selbst als unerwünschtes erkennen, dieses Erkennen als richtiges, wenn nicht gar wahres Erkennen erkennnen, und folglich in dem Moment, in dem es sich als richtiges System zeigt, von sich ablassen.[26]

 

 

D) Die Behinderung, mit klarem Kopf zur Welt zu kommen

 

Viertens beschränkt sich diese Arbeit als Produkt darauf, Produkt ei­nes Produktionsprozesses zu sein, der ausschließ­lich in der Wirklich­keit der Nüchternheit ablief. Zu ver­stehen ist diese unter zwei Aspek­ten: unter dem Aspekt der intellektuellen (1) und unter dem der er­kenntistheoretischen Nüchternheit (2).

(1) Diese Nüchternheit hat etwas zu tun mit dem Eingestän­dis, sich maßgeblich als Mitglied einer geistigen Rezession zu verstehen bzw. als Angehöriger einer klimatisierten In­telligenz (Jean Baudrillard), die nicht über ihren Schatten (der hier vielleicht immer noch vordringlich metaphysischer Art ist) zu springen vermag, sondern diesen als Halt für eine schwache Identität und eine schwache Intensität be­nutzt: Wer oder was das Licht wirft und warum, werden dann Fragen zweitrangiger Art (wie Platons Ge­fangene in der Höhle, die nur Schattenbilder wahr­nehmen, aber die ideae rerum als das wahrhaft Seiende dahinter nicht erkennen). Es mag dahingestellt sein, ob die geistige, intellektuelle, künstlerische Verfassung in den technophilen spätkapitali­stischen Gesellschaftsge­bilden wirklich nur noch aus dem Leeren schöpft oder einfach nur schöpferisch leer ist. Offen bleibt auch, ob nur Neues Ge­schichte machen kann und also das Ende der Geschichte in eins geht mit der Absenz von Innovation. Plausibel voraussagbar scheint dage­gen zu sein, in nicht allzu ferner Zeit einen Anschluß der "akademischen Welt" an die Fortschritte einer gesellschaft­lich immer breiter wer­denden Ver­mittlung der Beziehungen über "Null-Destruktivi­tät" mitzuer­leben, die der Preis ei­ner kontinu­ierlich ver­hinderten und tabuierten Kultivie­rung von Agressivität in der Gesellschaft zu werden beginnt, der auch nicht mehr über die zur Sozialintegration als Notbe­helf ein­gesetzten Medien des Geldes, des Rechts, der Macht und der kultur­technologischen Unterhaltung "bezahlt" werden kann (man sollte sich al­lerdings davor hüten, nach einer neuen "Währung" Ausschau hal­ten zu wollen oder alte zu reaktivie­ren, solange die alte Wahrheit noch in­takt ist). Der Ein­schluß der kulturellen und intellektuellen Eliten in die "Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit" (Max Weber) wird also Agressi­vitätssyndrome als maßgebliche, wenn auch durch "Klassensolidarität" bisher verdeckt gehal­tene "Triebfedern" der Re­produktion dieser "Expertensysteme" freilegen, die weit über das hin­auszugehen verspre­chen, was eine noch freundliche postempi­ristische Wissenschaftskritik Paul K. Feyerabends als auch eine schon näher an den Nerv gehende Konterka­rierung der akade­mischen Klasse durch postmoderne und psychoanalyti­sche Phi­losophien bisher zeitigten. "Die theoretische Windstille ist zum Kernproblem geworden, die Demoralisierung des Den­kens droht sich zur Paralyse zu steigern"[27]. Nüchternheit innerhalb ei­ner Paralyse zu wah­ren heißt daher beinahe hin­reichend, die Mate­rial- und Sinnerschöp­fung der Begriffs­maschine des abendländischen Denkens um ein weiteres Jota zu erweitern, anstatt sie, die Maschine, mit ihren Mitteln ge­gen sie zu kehren. Als letz­ter "Held" darf hier, viel­leicht in der Tradi­tion Kierke­gaards und Husserls, Ad­orno ausge­macht werden, an den sich die vorliegende Arbeit im Gedanken anlehnt.

(2) Diese nüchterne Wirklichkeit ist desweiteren nicht auf­zufassen als diejenige eigentliche, in der alle anderen, uneigentlichen Wirklich­keitsverfassungen zu sich kommen und also aufgehoben werden; die Tat­sache, daß alle Betäubung nur als temporäre und dazu als explizite Zu­tat, als Drein­gabe, als unabdingbares Zutun aufzutreten vermag, um dann doch in eine sich scheinbar von selbst wieder einstellende Nüch­ternheit zurückzuströmen, sollte m.E. nur sehr vorsich­tig zu dem Um­kehrschluß führen, daß die sich selbst tra­gende (wenn nicht gar träge) Wirklichkeit des immer schon In-der-Welt-Seins (à la Heidegger wäre dies das Sich-nicht-melden der Welt)[28] das einzige Fenster sei, durch das gesehen die Transparentwerdung von Welt notwendigerweise dasjenige ist, was am verborgensten bleibt. Mit einer sicherlich nicht mehr ganz stimmigen Unterscheidung von Wahrheit und Täu­schung ließe sich demge­genüber auch eine Auffassung von der Beständigkeit und des Sich-selbst-Einstellens der nüchter­nen Wirklichkeit halten, die mit der Un­terschiebung des Bleibenden als des Wahren den Anfang der Wahrheit als An­fang der Täuschung trans- bzw. deformiert sieht. Es wäre demgemäß also "ein Fehlschluß, was dauert, sei wahrer, als was vergeht."[29] Wen­dete man diesen erkenntnis- und wahr­heitstheoretischen Vorbehalt auf das Schreiben an (also als Konnex der Punkte drei und vier), dann ent­puppte sich das Schreiben als die perfideste Art, dieses Fehlschlies­sen zu perpetuieren: Nicht nur, daß es durch ritzen und graben (lat.: scribere; griech.: graphein) das amorphe, zeitlose Rauschen, das ver­schwindene Passieren und das gegenstands­lose Material der Zeit über­haupt erst zugänglich (und also lesbar, bewahrbar und identifizierbar) macht, sondern daß es noch im eigenen Spuren-legen darüber informiert, uno actu Spuren zu verwischen, die als verwischte Spuren erst dadurch erkennbar werden, daß sie verschwinden, mache die Perfidität des Schreibens, d.h. genereller die Perfidität des Unterscheidens[30], aus. Es mag also absurd sein, im Schreiben festzuhalten dadurch, daß über­haupt erst Bleiben­des konstituiert wird, das sich dann festhalten ließe. Und noch absurder, gar paradox läßt es sich an, in z.B. postmo­derner Manie(r) das Nicht-integrierte, das Unverbundene, das Inkommen­surable dadurch inkommensurabel sein zu lassen, indem es durch sein "Erschrieben-werden" (man könnte auch von "auflesen" sprechen) zur Vollstreckerin der Ortlosig­keit des Schreibens (Michel Foucault) ge­macht wird.

Was dann noch bliebe, ist Jacques Derrida[31] (bzw. Heidegger bzw. Nietzsche).

E) Vokabulare als Erinnerung an die Orientierung

 

Fünftens ist der schreibende Gang durch das Thema, versteht man es einmal als fremde Stadt oder als fremde Landschaft, der man zu begeg­nen sich traut, kein Gang unter Führung ei­ner exakten Stadt- oder Landkarte, die als Referenz des Ab­gleichs dessen, was ist, mit dem, was sein soll, dient, sondern ein Gang vergleichbar dem eines (sicherlich anachronistisch gewordenen) Flaneurs, eines Flaneurs al­lerdings, der seiner Gangart nicht ganz sicher ist und zur Not etwaige Karten (sprich: Texte) bereithält, sollte er einmal in einem Hinter­hof ohne Ausgang landen. Diese Karten sind nichts anderes als Vokabu­lare[32], deren Markenzeichen an Namen[33] wie (u.a.) Aristoteles (scholastisch-aristoteli­sche Lehre), Bacon (empirischer Materialis­mus), Kant (Transzendentalphilosophie), Hegel (System des objektiven Idealismus), Heidegger (temporalisierte Fundamentalontolo­gie), Adorno (Kritische Theorie), Freud (Psychoanalyse), Habermas (Theorie des kom­munikativen Handelns), Lyotard (Theorie der philosophischen Postmo­derne), Luhmann (Theorie der Systemtheorie) und Maturana (Theorie der Autopoiesis) festgemacht werden. Es besteht kein Zweifel, das allein schon soziologisches bzw. philosophisches Flanieren nur dasjenige "Sehenlassen" (Heidegger) zuläßt, das durch die Vokabulare schon seine wenn auch nur applizierte Interpre­tation erfuhr. Es wäre also töricht zu glauben, man ent­decke (die Stadt) neu. Der Vorteil dieses schrei­benden Fla­nierens durchs Thema ist denn auch nur, in Momenten, wo klar wird, wieviel Denken noch zu erledigen ist, nicht stante pede auf den Kanon der Kartographie zurückzugreifen (also die Texte der Philo­sophie, der Soziologie, der Biolo­gie, der Psychoanalyse usw.), sondern sich vielleicht noch einwenig mehr als üblich zu verwickeln mit dem, was man verstehen, einordnen und in seiner Bedeutung klären will. Wir werden also nicht mehr in der Lage sein zu sagen: "Von unserer Person schweigen wir", wie es Kant tut, wenn er ein Zitat Francis Bacons als Motto seiner Kritik der reinen Vernunft voranstellt. Ob sich damit al­lerdings die kantsche Forderung der Restriktion auf Erfahrbares halten läßt?

 

 

F) Von der Schwierigkeit, Kritik zu üben

 

Sechstens versteht sich die versuchte Arbeit in ihrer Auseinanderset­zung mit wissenschafts- und erkenntnistheore­tischen Modellen der Sy­stemtheorie (und, abgeschwächt, des Radikalen Kon­struktivismus) primär nicht wissen­schaftstheoretisch und er­kenntnistheoretisch, sondern ge­sellschafts- und, in modifi­zierter Form, ideologiekritisch. Dies wäre dann, etwa im Falle der hier zur Erörterung anstehenden Wissenschaftsmo­delle, eine Entscheidung dafür, ebendiese nicht allein ent­lang einer "ideengeschichtlichen", entlang einer wissen­schaftsinternen Differen­zierung zu kontextualisieren, wie es etwa Luh­manns Sicht der Wissen­schaft als geschlossenes autopoietisches System nahelegt, das allen­falls pertur­biert werden kann, aber das Maßgebliche (etwa die Leit­differenz wahr/falsch) weiterhin selbst generiert, son­dern das Aufkom­men und die Gestalt dieser Forschungsprogramme klar von einer Theorie der strukturellen Affinität zwischen Technik, Wissen­schaft und Kapital aus zu fassen[34], bzw. von einer Theorie des Ver­hältnisses zwischen Wissensproduktion und sozialer/politökonomischer Struktur[35]. So wie etwa Francis Bacons neues Organon nicht allein vor dem Hintergrund sei­ner Ablehnung der innovationsschwachen schola­stisch-ari­stotelischen Lehre, sondern seine veränderte Naturauffas­sung durchaus als Resonanz und Verstärker einer sich eben­falls wandelnden Einstellung "der" sich im 17. Jahrhundert ausbildenden Industrie ver­standen werden muß[36], wo­bei deren Auffassung über Natur als Arbeitsge­genstand mit der Bacons, ebendiese einer rationalen Beherrschung zu subsumieren, konvergierten, so sind die hier in Rede stehenden Modelle des Verhältnisses von Welt und Mensch nicht allein mehr oder weniger akademische Richtungen, die mit anderen akade­mischen Richtungen über Fragen epistemologischer Reichweite diskutieren ('Was ist der Mensch?'; 'Ist Denken körperlos simulierbar?'; 'Was bedeutet Kommuni­kation?'), sondern es sind Mo­delle, die in ihrer "Neuheit" zumindest Auswege an­deuten aus derjeni­gen Sackgasse, in die die vordringlich us-amerikanische Computerindu­strie- und forschung (vorallem die KI-For­schung und die Kognitionswis­senschaft) mit ihrer hegemonialen von-Neu­mann-Architektur und ihrem Paradigma der semantisch-symbolischen In­formationsverarbeitung gera­ten sind[37].

Gewiß, die gewohnten Parameter dieser Kritik sind im Ge­brauch weitge­hend abhanden gekommen und es wird Jahre dau­ern, bis Gesellschaftskri­tik wiederentdeckt und erneuert wird[38]; notabene eine Kritik, die darin überzeugen kann, nicht zu einem marktwirtschaftskonformen Räson­nement (R. Kurz) sich verkehrt zu haben. Kritik hat selber als Thema der Kritik sich auszulie­fern (ohne allerdings die unausweichliche Zirkula­rität als Totschlagargument dafür zu benutzen, aus Kritik der Kritik deren Eliminierung abzuleiten), hat an sich selbst anzuwen­den, daß nicht nur grundlegender Wandel statthat, sondern ein Wandel der Grund­lagen des Wandels (Ulrich Beck). Bliebe dies aus, so bliebe (zumindest aus meiner Sicht) nur dies: Das Suchen nach Anschluß an ein Forschungspro­gramm (im Sinne Imre Lakatos') bzw. an ein Paradigma (im Sinne Thomas Kuhns), und die Installation eines Leitsterns in Gestalt des Satzes 'Die Rich­tigkeit der Theorie liegt in ihrer Richtung auf sich selbst' (N. Luhmann). Praktisch gewendet bleibt jedoch die Einsicht gültig, daß "negative Kritik [...] unverzicht­bar [ist], wenn wir nicht gleich resignieren und das, was uns an Zivilisation bleibt, mit der Polizei einbunkern und gegen alle Eindringlinge dichtmachen wollen"[39].

 

 

G) Die Unfähigkeit zur Konzentration: Ein Geschenk?

 

Schließlich (aber dieses schließlich ist nur eine dezisio­nistische Entscheidung, nicht im Uferlosen zu enden) "quetscht" das Vorhanden­sein eines Fernsehers (eines Appa­rates also) eine Antiquiertheit aus dem Vorhaben, theore­tisch zu schreiben, hervor, die vielleicht in der rhetori­schen Frage gebündelt werden kann: "Wie ist es möglich, noch theoretisch zu schreiben, wenn der Fernsehapparat etwa 2 Meter von ei­nem entfernt steht"? Wenn eine große Menge von kleinen Perzeptionen zusammenkommt, worin sich nichts deutlich unterscheidet, so Leibnitz im Satz 21 seiner Mona­dologie, so ist man betäubt; das Gehetztsein von der Angst, in den Abgrund des Nichtwahrgenommenen zu fallen, so Chri­stoph Türke, erhöhe das Bildtempo, also die Anästhesie; aber: Charak­teristisch für das Bewußtsein als aus Ereignis­sen bestehendes System sei es, so Luhmann, daß deren Dau­erzerfall zur unerläßlichen Mitursa­che des Systembestandes wird. Die laufende Vernichtung der Elemente sei Bedingung dafür, daß hinreichend verschiedenartige Elemente entste­hen. Es könnte nun sein, daß zwar Vernichtung der Elemente (Gedanken, Bedenken), aber keine Elemententstehung statt­hat. Das ent­stehende Element wäre dann meist ein etwas dif­fuses Gefühl ob der Ab­wesenheit von Gedanken: Man greift ins Leere, weiß aber, daß da etwas gewesen sein muß, nach dem zu greifen lohnte. Dieses "Schicksal" dürfte wohl all die treffen, die sich nicht als Spätgebo­rene einer über 2000-jährigen (überlieferten) Kultur- und Geistesgeschichte ver­stehen, sondern eher als Exemplare derjenigen geistigen bzw. intellek­tuellen Verfassung, die Adorno so einprägsam als "Halbbildung" be­zeichnete. Gewiß, stupen­des Wissen macht auch in einer besonderen Weise stu­pide; aber während für "unsereinen" die intellektuelle Kraft, vielschichtige geschichtli­che (Text-)Welten um sich herum zu bilden, aus denen wir mit sicherer Hand Verbindun­gen ziehen, recht schnell er­lahmt und wir uns wieder zu­rückgeworfen sehen an unseren kleinen Schreibtisch, der als Enklave in dann doch wieder nur einer Realität sich an diese anzuschliessen sucht, vermögen die "Wissenden" im Wissen der vielen ge­schichtlichen Zeiten zu leben (hoffentlich mehr leidend denn hoffend). Während diese also in ihrer Gegenwart um­schaltlos Zu­gang zur polytexturalen Geschichtlichkeit ge­winnen, schaltet "unsereiner" wohl eher recht beliebig aufs Fern­sehn- und Printpro­gramm[40] um oder zwischen diesen und dem Alltag "der Straße". Es trifft tatsächlich verallgemeiner­bar zu, was Kommissar Jansen im soziologi­schen Kriminalro­man "Mord im 31. Stock" von Per Wahlöö feststellt, als er im Rahmen von Ermittlungsarbeiten Zeit­schriften "des Konzerns" zu lesen hat: Einhundertvierzig Zeitschriften: keine Hinweise! Trotzdem ist die Wirkung, die vom etablierten Konsum hinweis- und verweislo­sen Seh- und Lese-junk-foods auf die Produktion eigener Ver­weisungshorizonte abstrahlt, beträchlich. Wem es immer we­niger aus­macht, sich den Verlockungen der "Sekundenkultur"[41] hinzuge­ben, be­kommt unausweichlich Schwierigkeiten, Bögen zu spannen. Unent­spanntes Bögenspan­nen dürfte in der Arbeit wohl zu besich­tigen sein. Der Schwung, so ein richtiger Satz Luhmanns, der Schwung des Anfangs ver­liert sich in den Bemühungen um Rettung des Begonnenen. (Nur im lite­rarischen Feld scheint es möglich, aus dieser Zustands­beschreibung selbst ein schriftliches Reflektieren zu er­stellen, das nicht in sei­nen eigenen Ge­halt eingeht: Fern­ando Pessoa fällt einem ein: "So bin ich, nichtig und sen­sibel, fähig zu heftigen, verzehrenden Im­pulsen, [...] nie­mals aber zu einem überdauernden Gefühl, niemals zu einer Ge­fühlsregung, die fortwirken und in die Substanz der Seele eingehen würde. [...] Alles fesselt mich und nichts hält mich fest".[42])

Der folgende Text ist also Produkt von Herausnahmen aus

 

- dem "Einstellungsraum", der zwischen den Begriffen Enga­gement und Distanzierung (Norbert Elias) aufgespannt ist; tenta­tiv geht die Einstellung zum Text in die Richtung der Di­stanz (nicht zu verwechseln mit einer Distanzierung vom Text), und weiß damit, was sie alles unberücksich­tigt hält.

- dem "Herstellungsraum", der zwischen den Begriffen Dia­logizität (von Sprechhandlungen) und Dialogizität (von Ge­danken) aufgespannt ist; eindeutig geht die Herstellung des Textes in Richtung der letzte­ren (und weiß damit, was sie alles unberücksichtigt hält).

- "Räumen von Medien und Formen von Medienräumen": Diese umfassen das gesamte Spektrum der Kulturtechniken des Aus­drucks, der Darstellung und der Imagination sowie die Sinne des Hörens, Sehens, Erinnerns (Gedächnis verstanden als Sinnesorgan), Lesens und Schweigens - alles ohne auch nur einen Hauch von Hierarchie. Der Text wählt das Me­dium Schrift und die Form des Lesens (und weiß damit, was er alles unbe­rücksichtigt hält).

- dem "Raum der 'Bewußtseinszustände'", der aufgespannt ist zwischen Nüchternheit, Verzweifeltsein, Im-Rausch-sein, Stummsein u.v.a.m. (speziell esoterische Zustände sind hiermit nicht gemeint); der Text entstammt einem nüchternen Zustand (und weiß damit, was er alles unbe­rücksichtigt hält).

- dem "Raum des Stils", der sich zwischen der Markierung 'stilsicher' und einer Umschreibung erstreckt, die lautet: "Das kommentierende Sub­jekt entfernt sich. Es ist, als wür­den bloß noch Türen aufgerissen, aus denen herrenlose Rede quillt"[43]. Der Text wird gezwungen sein, sowohl jederzeit sich in einer Art Auffindbarkeit für das kommentie­rende Subjekt zu halten, also auch (manchmal) zu verschwinden (und da­mit in der Inadäquatheit der Vermittlung[44], die da­bei praktisch zum Vorschein kommt, die Unwahrscheinlichkeit der textlichen Vermittlung kurz gegenwärtig zu machen). Der Text weiß hier, was er alles berück­sichtigt.

- dem "Raum der Verantwortung": Dieser reicht von der Ver­antwortung, die man gegenüber dem Vokabularreservat oder der Schule empfindet, aus dem und aus der heraus man einen Beitrag für es und sie liefert, bis hin zur Verantwortung, die man für die Gesellschaft, die Menschheit, den Planeten zu empfinden meint. Der Text geht eindeutig in die zweite Richtung[45] und weiß damit, was er alles berücksichtigten muß.

Der Text ist schließlich Produkt von Herausnahmen aus

- dem "Raum des intellektuellen Daseins": Dieser beinhal­tet sowohl die eigene Anwesenheit als bloße Notwendigkeit zur Verwirklichung der Freiheit des lesenden Lebens in Ab­wesenheiten (der Zeit, der Ge­schichte, der Gedanken) als auch Anwesenheit als Freiheit von der Not­wendigkeit des Sich-Vergegenwärtigens, wie abhängig sich das Anwesende aus dem Abwesenden heraus verwirklichte. "Sieht" die erste An­wesenheit Spitzen nur als Spitzen von Eisbergen, so die an­dere nur sich unter­scheidende, aber auf nichts verweisende oder zeigende Punkte auf einer Oberfläche (vielleicht pas­ste hier die heideggersche Zuhandenheit). Der Text "ist" in der letzteren Anwesenheit, geht aber zur ersteren.

 

(Das Problem ist, zugespitzt: Man will immer nur die lang­samen Sätze hören.)

 

 

 


3) DER AUFBAU DER UMWELT, IN DER DIE SYSTEM­THEORIE ALS SYTEM-IN-DER-UMWELT DES SYSTEMS KRITIK AUFFINDBAR WIRD: ENGFÜHRUNG DES THE­MAS IN DIE KANÄLE DES SCHREIBENS DURCH WEI­TUNG DER HINTERGRÜNDE

 

 

 

"Das Individuum kann niemals zum Maß der Dinge werden, denn das Indi­viduum steht der ob­jektiven Wirklichkeit notwendig als einem Komplex von starren Dingen gegen­über, die es fer­tig und unverändert vorfindet, denen ge­genüber es nur zum subjektiven Urteile der An­erkennung oder der Ablehnung ge­langen kann"

 

Georg Lukács

 

 

"Der Bereich sprachlicher Äußerung ist ein geschlossener Bereich und es ist unmöglich, aus ihm durch sprachliche Äu­ßerung hinauszutreten. Da der sprachliche Bereich ein ge­schlossener Bereich ist, ist es mög­lich, die folgende onto­logische Aussage zu machen: Die Logik der Be­schreibung ist die Logik des beschreibenden (lebenden) Systems (und sei­nes kognitiven Bereichs)"

 

Humberto R. Maturana

 

 

"Das Problem liegt also darin, wie man berücksichtigen kann, daß Hin­tergrundwissen und Erwartungshorizont eine In­terpretation zuwege brin­gen. Bei der Systementwicklung im Be­reich künstlicher Intelligenz hat das dazu geführt, der Repräsentation 'interne' Ge­sichtspunkte hinzuzu­fügen. Das Programm zieht nicht nur Schlüsse über den Gegenstand selbst, sondern versucht, diejenigen Aspekte interner Denk­prozesse bei Sprecher und Zu­hörer nach­zubilden, die für die Interpretation wichtig sind"

 

Terry Winograd/Fernando Flores

 

 

Der unvermittelte Einzug der Uneinholbarkeit der Totalisie­rung von Vermittlung als Verdinglichung ist nun ein (wenn nicht der) Ausgangs­punkt des Radikalen Konstruktivismus und der luhmannschen Systemtheo­rie, die es hier zu betrachten gilt.

 

 

 

3.1 Invasive Introspektion

 

 

A) Was ist gemeint?

 

Invasive Introspektion will ich all die Versuche philoso­phischer, soziologischer und vorallem "erkenntnistheoretischer" 'Beschreibung' des Verhältnisses zwi­schen Mensch und Welt, zwischen 'Subjekt' und 'Objekt', zwischen lebenden Systemen bezeichnen, die es sich zur Auf­gabe gemacht haben, Ab­schied zu neh­men von Über­zeugungen, die die Sprache als Medium, das Erkennen als objek­tives Begrei­fen und Kom­munikation als Prozeß des Ver­stehens innerhalb des Repräsentationspa­radigmas verorten, und sich nun darum be­mühen, Wissen, Verste­hen, so­ziale Ord­nung, Lernen und Kom­munikation (u.v.a.m.) als of­fene Prozesse zu fassen, denen semantisch mit einer theorietech­nisch neuen Offenheit der Beschreibung Rechnung getragen werden soll.[46] Der antireprä­sentationistischen (und zum Teil anticartesiani­schen) Stoß­richtung und dem Aufgeben einer Ein­teilung der "Welt" in harte Fakten (Tatsachen) und bewußt­seinsabhängige Fiktio­nen (Imaginationen) kommen Begriff­lichkeiten entgegen, die von der Re­alität ausge­hen als eine von vielen Möglichkeiten der Anschließbarkeit notwen­diger Reproduktion und Auto­poiesis lebender Sy­steme; die davon ausgehen, daß Unwahr­scheinlichkeit das Selbstverständliche ist; davon, daß Welt ohne Grund ist und also nur noch dies als "Begründung" übrigbleibt: daß Systeme ihre eigenen Ope­rationen im Rück- und Vorgriff auf andere eigene Operatio­nen erzeu­gen; daß Wis­senszustände keine "schlafenden Ko­pien früherer Erfahrun­gen" sind, die von Zeit zu Zeit ins Be­wußtsein ge­rufen werden; daß Berech­nung und Er­klärung des Anderen scheitert[47] ; daß Verstehen­der und zu Verstehendes sich zirku­lär bedin­gen; daß also Organismus und Umwelt in­einander eingefaltet sind und sich in einer grundlegenden Zir­kularität auseinander entfalten (genannt: Leben);  daß alter und Ego operational für sich immer getrennt blei­ben, auch intrapsy­chisch (das alter Ego im Ego aus der Sicht Egos; das Ego im alter aus der Sicht alters); daß es im Emer­genzverhältnis zwi­schen alter und Ego - Sub­jekt und Ob­jekt - innerhalb der System­realität keine Hiera­chie der Reali­tätsdichte gibt, etwa: daß die Reali­tätgewißheit orga­nisch-physikalisch-che­mischer Objektiva­tionen größer ist als die Realitätsgewiß­heit von Unterstel­lungen, die von black boxes erzeugt wer­den (die als gegen­einander intransi­tive Partner Transparenz dadurch schaffen, daß das Unter­stellen zu einem Unterstel­len des Unterstel­lens beim alter Ego führt[48]); daß doppelte Kontin­genz nicht hintergehbar ist; daß gesellschaftliche Immunsysteme wie etwa das Recht nicht die Konsequenz schlechter Anpassung an die Umwelt bedeuteten, sondern die Konsequenz des Verzichts auf Anpassung; kurz und gut: daß nichts nah­bar wird (will sa­gen: im Wortsinne aufge­klärt wird). Zugleich ver­schwindet aber auch für die Weltbe­schreibungen, die von oben Gesagtem ausge­hen, die Not­wendigkeit, auf die Diffe­renz 'nahbar - unnahbar' zur Be­schreibung von Welt einzuge­hen: sie wird u.a. abge­löst durch die Sicht­weise, wie sich Weltzustände an andere Welt­zustände anschlies­sen lassen, und zwar in zeitlicher, sachlicher, sozialer und kognitiver Hinsicht; bzw. abge­löst durch die Sichtweise, die sich al­leine auf das Lösen (der Probeme des Darstellens) und das Darstellen von Proble­men speziali­siert. Exemplarisch wird diese Sichtweise im Kon­zept der Selbstsozialisation, deren Folgen zu begrüßen sind, deren Ausgangs­punkt (nämlich die monadisch gefassten Bewußtseinssysteme) allerdings theore­tisch nicht akzeptiert werden kann. Luhmann sagt: "Als Selbstso­zialisation ist So­zialisation nicht irgendeine 'Übertragung' von vorwegbe­stimmten Normen, Kognitionen, Verhaltensmustern oder sonst­welchen Daten von 'außen' nach 'innen'. So mag es einem Be­obachter er­scheinen, [..] und so mögen auch Soziologen als Beobachter den Vorgang sehen. Diese Auffassung ist denn auch nicht falsch, sie bleibt aber relativ auf dem Stand­punkt der Autopoiesis des beob­achtenden Systems und formu­liert nicht die Perspektive, in der der Sozialisand sich selbst sozialisiert".[49]

Der Terminus invasive Introspektion läßt sich im übrigen vor allem bei den Texten Luhmanns als Nachfolger dessen verstehen, was man bei Hus­serl - in seinem Buch "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno­menologischen Philoso­phie" - mit seinem Verfahren der "Einklammerung" (epoché) als philosophische Introspektion bezeichnen kann (die ih­rerseits implizit auf Wilhelm Munds psychologische Intro­spektion zu­rückgeführt werden darf). Husserls Begehr, die sogenannten intentiona­len Gehalte des Geistes rein intern und ohne Bezüglichkeit zu Gegen­ständen in der Welt, zur Di­mension der Sprache und ohne Bezüglichkeit zur Dimension konsensuell geprägter Erfahrung bestimmen zu können, findet sich empiri-, systemi-, zirkulari- und naturalisiert wieder in Luhmanns Systemtheorie.[50] Allerdings handelt es sich nun nicht mehr um 'Wesensschau', sondern um das sich all­überall ausbreitende Beobach­ten einer wesentlichen Absenz irgendeines Wesens.

 

 

B) Das Selbst im Außen

 

Die im hiesigen Sinne verstandene invasive Introspektion als elemen­tares Kon­stituens von Welterzeu­gung im nichtmeta­physischen Sinne flieht der maßgebli­chen Architektur von theoretischen Angeboten, Sinn, Welt, Bezüglich­keiten und Situationen zu definieren: nämlich der Ar­chitektur von (theoretischen) Erwar­tungen an die Gründungs­kraft "des" Grundes. Mit Hilfe einer Begrifflichkeit, wie sie sich etwa in "doppelter Kontingenz", "Emergenz", "Selbstreferentialität", "Autopoiesis", "subsymbolisches Paradigma" und "Kopplungsviabilität von Emer­genz und Welter­zeugung" dartut, versuchen die sie benutzenden neuen Be­schreibungen einen Bewußtsein endgültig naturalisie­renden Weg der Verrüc­kung und Auflösung bis dato gebräuchlicher Grenzen und Zu­sammenhalte zu gehen, der Sinn-, Er­klärungs-, Verortungs- und Verste­hensangebote unerreichbar macht, die sich an den Leitdifferenzen "Wesen - Er­scheinung", "Subjekt - Ob­jekt", "materiale Präsentation - semioti­sche Repräsen­tation" und "Universalismus - Parti­kularismus" orientie­ren. Die fortgeschrittene Systemtheo­rie, der viable Kon­nektionismus, Theorien über mutualisti­sche Konstitutionen von "Sozialität" stehen dabei vor dem Pro­blem, trotz Auf­gabe materialer Intersubjektivität, trotz Aufgabe eines Denkens, das noch von einer gemeinsamen Benutzung von Ele­menten durch verschiedene Systeme, und trotz Aufgabe inter­ner Verklammerung von Kultur, Person und Gesell­schaft in der Lebenswelt Bedingungen angeben zu müssen, die die kul­turelle Reproduktion, die Sozialisiation, die Sozialinte­gration und die individuell geführte kollektive Kommunika­tion als ausschließlich extern und kontingent ver­bundene und gesellschaftskonstituierende Sy­steme erklärt (semantische Reproduktion), ohne auch nur ein Jota an Ver­schmelzung, an evolutio­närer Emergenz von Verschmelzungsformen oder von Transzendenz beizugeben. Zu diesem Behufe stehen Begriffe wie Interpene­tration, strukturelle Kopplung, Beobachtung zweiter Ordnung bereit, deren einzige Aufgabe es ist, be­stimmte, scheinbar intern ver­bundene 'Systeme' wie etwa Indi­viduierung und Ver­gesellschaftung als bloß temporäre und sequentielle, operationell oder strukturell gekop­pelte Verbindun­gen zu beschreiben, damit das wich­tigste eines funktio­nal differen­zierten und autopoietischen Sozialsy­stems gewahrt bleibt: nämlich ein allgegenwärtiges hohes Auflöse- und Rekombinationsvermögen der sich extern aufein­ander beziehenden Systeme. Vor allem die biolo­gische Epi­stemologie H. Maturanas, auf der ein maßgeblicher Strang des radikalen Konstruktivismus fußt, macht radikal ein Ende mit (aus die­ser Sicht) leichtfertigen Annahmen von Gemeinsam­keiten verschiedener Systeme, mit leichtfertigen Unterstel­lungen von Verstehensakten und leichtfertig als objektiv angesehenen Übereinstimmungen zwischen Sy­stemen (der Ko­gnition, der Verständigung, des Verhaltens): Der "Andere", das "Andere", die "Welt", die "Anderen" sind end­gültig und irreversibel unzugänglich, auch das Beziehungs­gerüst Egos zu seiner "Welt", in der er ist (Heidegger), bleibt refle­xiv nicht einhol- und positiv bestimm­bar. Gesellschaftskon­stituierend ist einzig ein "ontologisch" völlig anders ge­arteter Raum, der Raum der Beobachtung (von Beobachtung), des Fernsehens, des Hin- oder Hineinsehens in das Außen des Beobachters, der beobachtet. Diese theoreti­sche Grundlegung elementarer Bezüglich­keit zwischen Lebewe­sen, Systemen und Sprachen, wie sie die biologi­sche Episte­mologie und der da­von beeinflußte Systembegriff Luhmanns entwerfen, birgt zu­mindest Ambivalenz: Es geht in der Be­ziehung zur Welt da draußen, zum "Anderen", erstblicklich nicht vordringlich um Vereinnahmung, nicht um Okkupation, nicht um Re­duktion auf das, was Ego wichtig ist, sondern es geht darum, anzuer­kennen, daß das Verstehen des An­deren logisch gekoppelt ist mit "es-sein-lassen"; immaterielle Beob­achtung, nicht materielle Bearbeitung ist der Flaschenhals zur Er­kenntnis. Was könnte der Akt der Beobach­tung bedeu­ten?

 

 


C) Die Unberührbarkeit des Beobachtens

 

Hineinsehen: Hin-einsehen könnte meinen, das Objekt des Se­hens bleibe dort am Platze, wo es ist, einzig der Sehende muß sich bewegen, zu es hinbewe­gen, um es zu sehen. Die räumliche, lokale, ökologische, mate­riale Dimen­sion des Ge­sichteten bleibt untangiert, bar einer Zurich­tung, die bewerk­stelligte, das Zusehende dem anzupassen, was man se­hen will (oder nur kann). Die Entfernung zwischen Seher und Gesehenem wird anerkannt durch ihre gewollte Überwindung im Bewe­gungsakt des Sehenden zum Ge­sehenen hin, und nicht elimi­niert durch Feststellung des Gese­henen als Gewußtes, dessen man nicht mehr innen einsichtig werden muß, um es zu be­greifen (etwas zum stehen bringen, meist gewaltsam, um es dann zu verstehen).

Hineinsehen: Hinein-sehen könnte meinen, daß das reale Ob­jekt in sei­ner Empirik notwendig ergänzt wird durch ein imaginiertes, assoziier­tes, symbolisches. Die konkrete Ge­stalt des Gesichteten wird einzig anerkannt, um von ihr zu abstrahieren. Die Resultate des Hineinse­hens ins Objekt bleiben aber, anders als bei der Interpretation (etwas Hin­eininterpretieren), dem real Gesehenen strikt äußerlich, von außen kommend und als von außen Kommendes anerkannt.[51] Die tatsächliche Kon­textualität des Objekts wird nicht ne­giert durch das Hin­ein-sehen (wie es etwa beim Hineintuen oder auch beim Hineinreden der Fall ist), son­dern das Hin­eingesehene wird verstanden als Erkenntnisgast im er­kannten Objekt. Das gesehene Objekt wird nicht erkannt als Erkenntnisob­jekt; Objekt der Erkenntnis ist das, was nicht gesehen wird im Gesehenen, auch nicht notwendig ist für das Gesehene, sich aber in es einbilden läßt, ohne das Gesehene sich anverwandeln zu müs­sen. Das Objekt der Introspektion, Attraktor des introspektiven Pro­zesses, wird im Laufe der Inspektion als Objekt abgelöst durch den In­trospektierenden selbst, dem nun gewahr wird, daß das anfängliche Ob­jekt nur die Rolle der Verkörperung einer Äußerlichkeit zu spielen hatte, damit sich der Akt des Hineinsehens selbst veräußer­lichen konnte. Dieses durch Zeit gewährleistete Veräußerli­chen des Hineinse­hens wird in dem Moment unabhängig vom an­fänglichen Objekt (das mitt­lerweile zum Appendix wurde) und damit erkenntnis-wert, in dem die Be­obachtung des veräußer­lichten Hineinsehens, also die second observa­tion, sich als das verkörpert sieht, was die erste Beobachtung, das Hin­einsehen in ein Objekt, als Veräußerlichtes darstellt.

Invasive Introspektion meint, daß auch eine schwache, wenig in die Welt und deren Gegenstände eindringen wollende Art der Erkenntnis durch ihre Auswei­tung auf das Draußen der Welt (und nicht mehr nur auf das Innen der Psyche) in eben­dieses Draußen eindringt und Verwüstungen anrichtet, die nun nicht mehr unmittelbar in der realen, empirisch ma­teriellen Welt dingfest werden (Umweltzerstörung, Krieg, Depressions­architekur, Ausbeutung), sondern sich in denen abspielen, die draußen bleiben (von draußen aus in die Ob­jekte hineinschauen). Die Empfänger dessen, in das die Son­den gesteckt werden, auf das die Kameras gerich­tet sind, über das sich die Zeichen, Codes, Bilder und Worte legen, ohne Kontakt zu nehmen, exekutieren in einer nur noch si­mulierten, imaginierten und symbolischen (semiotischen) Be­züglichkeit mit der Welt da draußen ihre Apotheose der Ein­samkeit in der und ihr Abge­trennt-sein von dieser Welt. Mit etwas Mut zum Mythos ließe sich sa­gen, die modernisierte Natur des Menschen und die Kultur der Moderne rächten sich dadurch, daß sie die Unerträglichkeit, daß sie das Unver­fügte der Herrschaft über die Objekte nun in Permanenz reproduzieren mit Bildern dessen, was einmal Grund und sogar Ursache dafür war, sich einzubilden in sie, jetzt aber nur noch als rohes, antiquiertes Über­bleibsel, quasi als materiales Sub­strat der algorithmisierten und di­gitalen Bilder wahrnehm­bar bleibt: als Erinnerung, was alles verloren ging da­durch, es aufgelesen zu haben.

Was rechtfertigt es zu behaupten, in diesen Versionen der Systemtheo­rie und des Ra­dikalen Konstruktivismus (plus seiner Technolo­gie) sei eine totalitäre Vernunft ausfindig zu machen, und noch dazu eine, die jenseits der Moderne sei resp. orthogonal "auf" ihr stehe? Beide Theo­rien, die eine Gesellschafttheorie, die an­dere (in ih­ren Ursprüngen) eine biologische Theorie des Lebewesens, sind nicht nur universell, d.h. sie lassen nichts, was es gibt, aus[52], sie sind auch unilateral. Das dürfen, ja müs­sen sie, da sie gleichzei­tig auch spezifische Theoriepro­gramme sind, d.h. die "Welt" mit einer bestimmten Leitun­terscheidung zu beschreiben suchen (und eben nicht mit an­deren). Das gleiche gilt auch für Habermas' Theorie: sie bean­sprucht Universali­tät, beschreibt die Welt hingegen unilateral entlang der Differenz verständigungsorientierten versus zweckrationa­len Han­delns (um es ein­mal fahrlässig zu vereinfachen). Unilateralität der Theorien macht also kein Aufhebendes, zumal ihnen unterstellt wird, jenseits der Mo­derne zu sein, also einem bestimmten Charakter ebendie­ser nicht mehr zu folgen, der darin besteht, einen "geschichtsmetaphysischen", einen "teleologischen" Rahmen zu beanspru­chen, der als zumeist zukünftiger die Gegenwart und das Leben in die­ser radikal verbraucht für die Ei­gentlichkeit des Menschen in der Zu­kunft. Systemtheorie und Radikaler Konstruktivismus sind demgegen­über radikal uto­pieamputiert (und lassen nicht einmal hinreichende Ab­leitungen zu den unsichtbaren Utopien na­mens Demokratie und Freiheit zu), ihr Maßstab ist vollständig jenseits innerge­sellschaftlicher Dif­ferenz: Es geht entweder darum, daß ein le­bendes System viabel ist, also nicht stirbt (wobei dann auch ein Tod­kranker auf einer Intensiv­station in seine Um­welt passt, also viabel ist), oder darum, daß die Gesell­schaft genügend Komplexität bereit­stellt, um die unendli­chen An­schlußmöglich und -nötigkeiten zur Repro­duktion ihrer selbst zu re­alisieren (um sie dann gleich wieder zu ver­werfen, um neuen Platz zu machen). Ob ein Lebewesen strukturell un­terdrückt oder eine Gesell­schaft im Kern ir­rational die Fortsetzung der Autopoiesis bewerkstel­ligt, bleibt dabei zweitrangig: Fürs Überle­ben, so das vielzi­tierte Diktum, reicht Evolution. Es geht also beiden Theo­rien nicht um eine Bestimmung eines Zieles für Gesellschaft und Individuum, auch nicht einmal um eine "Kultivierung" des Dschungels oder gar um das Zurück­drängen des Dschungel­gesetzes in seiner Wirk­mächtigkeit auf das Le­ben vergesell­schafteter Menschen mittels ratio­naler Plan­nung, sondern darum, noch den Dschungel als gesetzlos zu fassen und ein­zig das Über­leben darin mittels theoretischer Kartogra­phierung desselben in seinen Bedingungen zu be­schreiben. Die Ge­schichte ist nicht mehr befragbar für das Ganze, weil es das Ganze nicht mehr gibt; Realitätsbezug ist nur noch durch einen Abgleich sy­stemischer Operationen möglich - "also darin, daß bestimmte Formkombi­nationen nicht gehen!"[53]; Kommunikation als Medium für Konsens und Bedingung des Prozessierens von Kon­flikten eru­iert auch keine soziale­volutiven Vermögen mehr, die im Pro­spekt die Bewußtseins- und Lebens­lagen der Indi­viduen ver­bessern könnten[54]; Menschen sind die, um die es am we­nigsten geht, wenngleich alles um sie herum auf sie zu kon­vergieren scheint: aber das sei, so Luhmann, ein Irrtum. Den Menschen, so der Radikale Konstruktivismus, gibt es nicht: es gibt Beobachtungen auto­poietischer Maschinen (die selbstre­ferentiell, homöostatisch, au­tonom, strukturdeter­miniert und geschlos­sen sind) über/von autopoieti­sche(n) Maschinen (die selbstreferenti­ell, homöostatisch, autonom, strukturde­terminiert und geschlossen sind), die beobachten, wie...usw. Der Effekt solcher Konstruktionen des Menschen kann, wie oben bereits erwähnt, eine positive Ambivalenz er­zeugen, etwa wenn aus dieser Sicht strikt logisch abzu­leiten ist, daß es unzulässig ist, "eine Kultur aus der Perspektive einer anderen als 'erfolglos' anzuprangern"[55] (wird es aber auch unzulässig werden, an­dere Kulturen als barbarisch zu bezeichnen?). Endgültig verlustig gehen hinge­gen Kriterien, die soet­was wie eine (mittlerweile vielge­schmähte) kritische Distanz zur Ge­sellschaft zulassen, die al­lein zu bestimmen fähig wäre, innerhalb welchen Maßstabes das gegen­wärtige "Sein" der Ge­sellschaft mit einem prospekti­ven "Sollen" vermittelt ist. All solche Kriterien können für die hiesigen Theorien bloß Zweit- oder gar Dritt­codierungen sein, in­nersystemisch ge­nerierte Unterschei­dungen, die nie­mals für die Gesell­schaft als ganze (wie vormals in der Po­lis) Gel­tung besitzen. Die Ab­straktheit der Unterscheidung Viabili­tät/Nichtviabilität via Selbster­haltung und -erzeu­gung der geschlosse­nen Sy­steme degradiert alle Hand­lungen und Verständigungen als Aus­flüsse eben dieser Leitdiffe­renz: Verständigung, Solida­rität, Kommuni­kation erscheinen somit als eine Art Luxu­sausführung eines ausschließ­lich je systemischen Imperati­ves der Selbsterhaltung. Was Horkhei­mer und Adorno mit dem Begriff der in­strumentellen Vernunft einfassten (dem Haber­mas mit seiner Reaktivie­rung der kul­turellen Rationalität einen vernebelten Lichtblick entge­gen setzten wollte) und als Totalität erfassten, das setzt der biologi­sche Konstruktivismus als empirisch voraus und die Luhmann­sche Systemtheorie endgül­tig in die Gesellschaft ein, deren Begriff damit ebenfalls endgültig lösgelöst ist von den Konnotationen einer Gesell­schaft mit menschlichen Antlitz (wenngleich Luhmanns An­tihumanismus mehrheitlich nur ein methodischer ist).

 

 

 

3.2 Ein kleines Gespräch[56] vor dem Anfang

 

"Worüber reden wir jetzt?"

"Sie meinen, worüber reden wir jetzt?"

"Womit wir anfangen ist egal. Sie können auch das Reden herausgreifen, oder das 'wir'. Oder von mir aus den ganzen Satz, den noch zu schrei­benden Text, in dem der Satz wohl einmal aufgehoben sein wird, den Kontext, in dem der Text sich verorten las­sen muß, den Kontext, der sich auf seine kulturellen und philosophischen Erbschaften wird ab­klopfen lassen müssen...- es ist egal: Überall ist anzu­fangen, wo das Material nichts mehr hergibt (: aus freien Stücken), mit dem was anzu­fangen ist (: aus Notwendigkeit)".

"Was dann aber bedeutet, Rattenschwänze an Einkreisungen, an Herausfindun­gen, an Auslotungen und Versprechungen sich aufzu­halsen, um erst den schma­len Korridor auszumachen, in dem wir überhaupt mit­einander zu reden vermö­gen, n'est-ce pas?"

"Nun ja, lassen wir das. Lassen wir uns reden über das Ver­lorengehen, über das Auslaufen, das Abdriften all dessen, was uns durch sein Heranziehen, sein Feststellen und sein Aufheben über Jahrhunderte das Denken in Kohäsion befind­lich erscheinen ließ[57]. Über das, was wir in paradiesi­schen Momenten des selbstirrenden Denkens im Kessel der Affi­nität und Universalität von Zeit, Raum und Artefakt dem Wunder des Her-Stellens ohne Wachstum überantwor­teten, dem nicht­glaublichen Pro­jekt, produzieren zu können, was nicht aus der Materie wächst.[58] Las­sen wir uns ein in die Schleifen derjenigen Begriffe, die soviel so­ziale Sym­bolik ver­mittelten, daß völlig aus dem Sinn geriet, wie ab­hängig sie an den "Mythen des Fortschritts und der Revolution" [G. Marra­mao], an der Fu­turisierung und der Entwerfbarkeit der Geographie, und an der Perver­tierung des "unfertigen Men­schen" sowohl zu einer un­endlich dehnbaren Masse als auch zu einem rigide redu­zierten Automaten befe­stigt waren".

"Warum sollten wir? Ich kann nicht ganz nachvollziehen, warum wir nur über genealogische, über rekonstruktive Hän­gebrücken Zutritt finden werden zum Uterus des sagen wir okzidentalen Rationalismus[59], warum wir überhaupt Anschluß zu suchen haben an eine Begriffs-, eine Ideen-, eine Pro­duktions- oder auch Praxisgeschichte[60], auch wenn der An­schluß mit einem vermeintlichen Abschluß in eins zu fallen scheint. Warum antwortgebährende, verantwortli­che oder gar logische Bezüglich­keit im­mer wieder herstellen wollen zwi­schen verschiedenen Welten, Kulturen, Gedanken, Begriffen, Kontinuitäten und Dis­sonanzen? Warum Aus­scheidung als ein Anwendungsfall von Verschiedenheit denken wollen, und nicht als das, was sie bedeutet, nämlich die logische Bedingung der Ermögli­chung des Unterscheidens? Wir denken immer noch so, als könnten wir denken, so wie wir immer noch zufuß ge­hen, als könnten wir uns bewe­gen. Wir bedenken immer noch Dinge (Kant, Hegel), Sachver­halte (Wittgenstein), Parado­xien (G.Spencer Brown) und Relationen (Kybernetik) so, als könnte man mit dem Erklären des Beschreibungsme­diums im Medium des Beschreibens das, was zu beschreiben ist, klären (Strukturalismus). Kaum hat die Transzendenz ihren Thron verlassen, von dem aus sie Raum, Zeit, Mensch und Gesell­schaft einigermaßen in und sei es nur imagi­nierter Konver­genz hielt, schon nimmt die Kontin­genz dort Platz und zele­briert die Forderung, daß jeder Zusammenhang, der sich ei­ner "Verschmelzung", einer Symmetriisierung und damit einer gewissen Unab­hängigkeit gegenüber den (systemspezifischen) Kontexten (also Um­welten) verdanken soll[61], der also eine Art teleologische Notwendig­keit für sich beansprucht, so­fort zu beweisen hat, "negierte Kontin­genz" zu sein[62]. Kaum sieht sich die formale Logik gezwungen, ihren durch sie mit Schließungsprinzipien versorgten Raum faktisch[63] statt­findender Entscheidungen, Entschließungen und Unterschei­dungen zu pro­vinzialisieren (etwa induziert durch die Krise des Re­präsentationsparadigmas, durch die Krise der Implementie­rung menschli­chen Denkens auf Maschi­nen), schon steht eine nicht-Aristotelische Lo­gik (G.Günthers), ein polykontextu­raler Weltbegriff (der sog. second order cyber­netics) und ein Formen- bzw. Indikatorkalkül (G.Spencer Browns) zur Verfü­gung, um der "neuen" Aufgabe gerecht zu werden, "Formen zu identifizieren, die auch im Chaotischen noch eine Ordnung erkennen lassen"[64]. Kaum läuft die Batterie des Menschen­bildes aus, das diesen aus seiner sozioanthropo­logischen, aus seiner gesellschaft­lichen und kommunikativen Wirklich­keit verstand, schon erklären uns Theorien der Biologie der Kognition (allerdings nicht biologistisch), daß der ge­eignete Flaschenhals für das Selbstverständnis des Menschen der sei, ihn als biologi­sches Lebe­wesen zu betrachten (und eben nicht mehr zuvör­derst als sozialge­schichtliches), das sich in der Bedeu­tungswelt seiner kognitiven Kon­zepte be­wegt, die mit der Semantisie­rung dieser Konzepte in der Spra­che sowenig zu tun haben wie die neu­rophysiologischen Perzepte mit den ko­gnitiven Konzepten, die diese erst be­deuten. Und kaum schwindet die Überzeugung, daß Inter­subjektivität die Be­dingung für Kommunika­tion ist, zemen­tiert die Sy­stemtheorie den Umkehrschluß, die Kommunika­tion sei Bedingung für "Intersubjektivität", mit der Konsequenz, auf die übersub­jektiven, quasi das Psychische und das So­ziale in einem Dritten überordnenden Sprachstrukturen zu verzichten[65], aus denen erst soetwas wie eine Einheit oder Identität der Gesellschaft in den prak­tischen Formen ge­meinsamer Öffent­lichkeiten herleitbar ist. Man könnte gar, vorausge­setzt, man akzeptiert nicht die Ausbildung gei­stig-kul­tureller Le­bensweisen als 'Evolution' einer in der Naturge­schichte des Menschen angelegten Organisationsform, von einer zweiten Vertreibung (andere würden sagen: einer zweiten Menschwer­dung) des Menschen spre­chen: nach der Dis­soziierung von der Natur, wie sie Hork­heimer und Ad­orno trotz vorhandenen Ge­schichtspessimismus' doch noch dialek­tisch einfangen konn­ten in einer Sichtweise des "Ent-fer­nens von" (Inhibierendem) und nicht nur in einer Sichtweise des "Entfernens von" (dem 'Anderen' des Menschen), nun die Dis­soziierung von den gesell­schaftlichen, kultuel­len und sprachlichen Räumen, in denen Individua­tion und Sozialisa­tion, Objektivität und Solidarität, Viel­heit und Einheit, Besonderes und das Allgemeine, alter und ego disse­miniert werden konnten. Zurück bleibt die Einsamkeit des Menschen nicht nur in der Natur, sondern auch in seinem Selbst, das als Selbst dann wohl doch nur die Gestalt eines Auto-Sy­stems konstituiert. Zurück bleibt das niemals abstreifbare Un­behagen des Menschen[66] an seiner zweiten Haut (die wis­senschaftlich-technische Zivilisation) und die damit verbun­dene Einsicht in den Zwang, sich auf das zu reduzie­ren, was ihn redu­ziert: auf die Ver-mittlung der Zwecke von Mitteln, auf die Reduk­tion von Bedeutung auf Funktion. Zu­rück bleiben (die Begriffe) Beobachter, struktu­relle Kopp­lung und konsen­sueller Bereich, die sich im "Innen", das sein Außen verloren hat, einrichten bzw. einstellen und nichts übrig lassen außer einer beobachtungsinvarianten Welt, deren Ein­heit darin be­steht, daß Be­obachtungen beobachtet werden können, und nicht darin, was die Beob­achtungen in einem Dritten, das Beobachte­tete, verbin­det. Der Mensch bleibt in seinem Innen draußen aus dem vormals eingeschlos­senen Drit­ten (die Sprache, die Gesellschaft), in­dem das Dritte nur noch als ausgeschlossenes Drittes eingeschlossen wird. Aber wo ist es einge­schlossen? In der Realität, der Wirklich­keit, der Welt? Wie es aus­sieht wohl nur in der Au­topoiese. Und damit wäre die Selbst­erhaltung des Subjekts (die jetzt allerdings unter an­derem Namen, näm­lich Selbst­erschaffung, auftritt), die die kritische Theorie Adornos als die Selbstbewegung des Menschengeschlechts aus­machte und zu denunzie­ren suchte, perfekt: Bis hinein in die biolo­gisch-kognitiven Ausstat­tungen des nur noch empiri­schen Subjekts wäre so evident ge­macht, daß jegliche Offen­heit, jegliche Interaktion und Kommunikation bis hin zu den ausdifferenzierten Formen verständigungs­motivierter intersubjekti­ver Kommunikation innerhalb der Welt als Zei­chen/Bedeutung (also der sprachlichen) nichts anderes seien denn "Wirkungen" der Bedingungen zur Ermöglichung von Fortsetzbarkeit ge­schlossener Reproduktion ge­schlossen bleibender Systeme. Jeglicher Austausch, jeglicher Kontakt, jegliche interaktive und kommunikative Strukturbildung, jegliches Überindividuelle Tun, jegliche Kooperationen, jegli­che Verschmelzungen, Vereinigungen oder gar Versöhnungen blieben immer eingebunden in der nur einen Wirklichkeit des sich selbst schaf­fenden Systems, würden niemals eigene, neue Tableaus schaffen zwischen "Mensch" und Realität, wä­ren also letztlich nur Instrument; nicht auch Instrument, sondern nur Instrument einer ausschließlich biologisch-ko­gnitiven und system­geschlossenen Grundlegung. In gewisser Weise geht dieses neue, system­theoretisch und kognitions­biologisch fundierte Vo­kabular der Selbst­vergewisserung und -verortung des Menschen in der Welt (und nicht mehr in der "Welt") über die Menschenweltbilder eines genetisch fun­dierten biologischen Fundamentalismus hinaus (wenngleich dessen Hegemoniewer­dung erheblich grausamere sozialpoliti­sche Konse­quenzen mit sich zöge): Während dessen Austrei­bung des Menschen aus seiner psychischen, sozialen, kul­turellen Haut relativ einfach als Re­sultat einer ge­schickten Konfusion von Kausalität und Korrelation zwi­schen bestimmten Genen und psychosozialen Erscheinungsformen nachge­wiesen und ad absur­dum geführt werden kann[67], so be­setzt der Radikale Konstruktivismus einen Anspruch auf Er­klärung der Bedingungen von Welterkenntnis und Weltwissen in derartig umfassender Weise mit den biologischen Bedin­gungen der Existenz des Menschen, daß sich jede op­positionelle Erklä­rung der Bedingungen von Welterkenntnis und Weltwis­sen etwa anhand der sozialen und kulturellen Da­seinsbereiche des Men­schen unversehens in ihren eigenen biologisch-kognitiven Voraussetzun­gen verfangen lassen kann, nimmt sie sich nicht vordringlich der Auf­gabe an, dieses biolo­gisch-naturalistische Konzept des Menschenwelt­bildes seinerseits plau­sibel als nur im Rahmen diskursiver Erkenntnis­theorien bzw. diskursi­ver Rationalität entscheid­bar und der Leitdiffe­renz wahr/falsch unter­stellbar zu kri­tisieren".

"Sie müssen aber jetzt aufpassen, daß Ihr Absehen von jeg­licher Wieder­herstellung des sozialen Raumes, der sozialen Zeit und einer so­zialen Iden­tität unter Berücksichtigung der Unbegründbarkeit von bis dato teleologisch daherkommen­den Zukünften der Freiheit, der Gleich­heit, der Solidarität und der gerechten Ordnung nicht dort landet, wo Heidegger mit seiner ontologischen Differenz nur noch Seinsvergessen­heit ausmachte; in Ihrem Falle wäre die nicht mehr nur auf das Abend­land beschränkt, sondern gälte dann wohl für den gesamten anthropolo­gischen Menschen. Sie hätten das Dasein endlich festgestellt. Die Feststellung, die biologischen Parameter des Menschen seien nicht bloß notwendige Bedin­gungen für die Schaffung sozialer, historischer und indivi­dueller Schnittmengen, Synthesen und Räume, sondern "konstituierten" ebendiese als bloße Emanationen ohne Ei­genwert und ohne Transzendenz, als bloße Appendizes und Supplements[68], konver­gierte dann etwa mit der Feststellung des geschichtsphilosophischen Adorno, die gewalttätigen Re­alabstraktionen der Tauschwertproduktion (also einer histo­rischen Formation) seien letzlich nichts anderes als Eman­ationen der Gewalt der Gebrauchswertproduktion (also einer anthro­pologisch konstanten Dimension)[69]. Beide wären ein Einstehen für die Überzeugung, daß die Zeit, in der Grenzen bloß durch Logik, Arbeit, Sprache und Zeit gezogen wurden und doch durch diese überschritten werden können, vorbei ist. Die Odyssee des Helden Mensch durch die Zeitgestalten "rationales Tier", "arbeitendes Wesen" und "kommunizierendes Subjekt", zusammengehalten bzw. verding­licht durch List, Herrschaft und Eigentum[70], entpuppte sich nicht als Sichtung nach Stützpunkten des Sinns, der Vernunft[71] und des Glücks, sondern als das, was sie war: ein Unterwegs-Sein (P. Sloterdijk) auf den Meeren der Kon­tingenz (und eingebettet vom Rauschen der Meere), mögen die Deutun­gen, Unterscheidungen und Erklärungen der Künste und der Wissen­schaft auch noch soviele empirische Bedingungen der Möglichkeit dieser "Unentwegtheit" erfolgreich zur "Landung" bringen. Die Deutungen und Erklärungen wären nichts anderes als Anfertigungen von Beschreibungen der Odyssee durch Mitreisende, quasi Auszugsgestalten, die für eine bestimmte Zeit die Permanenz der Operation Reise (oder, moderner ge­sprochen: der Operation Anschluß) verun­sichtbaren, um (semantisch) festzuhalten, was es nur als Unhaltbares gibt. Sie wären nichts an­deres als Versuche, im Fallen herauszubekommen, was der Fall ist: der Fall ist dann zwar semantisch der feststehende Fall, empirisch aber nur im Zustande des Fallens. Es gibt keinen Fall des Falls, sondern nur noch Fälle des Fallens. Vergleichbar ist dies mit einer anti-phi­losophischen Bestimmung des Bewußtseins: Die Einheit des Bewußtseins ist nicht mehr verankert in der letzten, sich selbst transzendierenden Synthese desselben, nämlich dem transzendentalen Subjekt (Kants), son­dern die Einheitlichkeit des Bewußtseins besteht in der generellen Verfügbarkeit der Information. Nicht das Ich, sondern die Information konstituiert das Bewußtsein. Erkennen und Emp­finden liegen nicht des­wegen vor, weil es ein Subjekt gibt, vielmehr ist das Subjekt des Er­kennens damit gegeben, daß überhaupt eine Empfindung vorliegt.[72] Die bahnbrechende und das bis spät ins 19.Jahrhundert hinein wirksame Re­präsentationsmodell ablösende Erkenntnis der Wissenschaf­ten, es nicht mit der Natur, sondern nur mit unserer Kennt­nis der Natur zu tun zu haben, steht nun ihrerseits davor, abgelöst zu werden von der Erkennt­nis, daß die Kenntnisse nicht einem in der Realität stehenden Subjekt, sondern aus­schließlich der (jeweiligen) Wirklichkeit eines Beobachters "zukommen"; zurück bleibt, als letztes gemeinsames Drittes, nur noch die Operation Beobachtung, eingezwängt in eine ri­gide zeitliche Se­quenz."

"Nun ja, ich weiß nicht, ob ihr implizites Unbehagen impli­zit nicht wieder einen blinden Aktionismus der Theorie fa­vorisiert, der entweder wie wirr nach neuen Sub­jekten der Geschichte, der Erkenntnis, der Gat­tung Mensch, der sozia­len Bewegung oder nur gar der Bürgerlichkeit sucht, oder der sich ins Reich des Schattens begibt, um im Verdräng­ten, Ausgestoßenen und inkommmensurabel Gemachten Anschluß an eine neue Plattform namens Subjekt bzw. Identität versucht. Beides halte ich für Verstär­ker eines turbulenten Still­stands, für ein Zucken der Glieder im Zustande der Verlet­zung, die den Schmerz noch nicht voll ausgebildet hat. Wir stehen nach der neolithischen, kopernikanischen, darwin­schen, freudschen, nach der linguistischen und soziologi­schen Entzauberung des Menschen nun mit einem Wissen über seine Stellung in und seine Beziehung zu der Natur, in und zu der Kultur, zu und mit Seinesgleichen und seine Bezie­hung zu sich da, das seiner eigenen Ent­zauberung harrt, aber, wohl aus einer noch nicht einsehbaren Finalität her­aus, bis jetzt in Ruhe gelassen wurde. Vielleicht ist aber auch der gewohnte Modus der Entzauberung müde bzw. selbstreflexiv geworden. Das Fugenlosmachen bzw. das Fugen-Losmachen in Tateinheit mit der Beset­zung leerer Sinn- und Gefügestellen durch Techik und Technologie, also Dekon­struktion des In-der-Welt-Seins und Konstruktion der Welt als die maßgebenden Beschäftigungen des Menschen mit der Welt, scheinen sich schon längst abgekoppelt zu haben von ihrem (metaphysisch gesprochen) agens, der Sorge (als Sein des Daseins)[73], um nun, als "Wirkungen" auf Suche nach ih­ren Ursachen, richtungs-, visions- und horizontlos ihre durch sie selbst initiierten Prozesse der Beschleunigung, der Verwer­tung, der Sichtbarmachung und der Vernichtung nicht nur auf den genuin menschlichen Raum loszulassen, sondern mittlerweile den plane­tarischen mit ins Vernich­tungsspiel einzuschliesen. Der Mensch als eingeschlos­sener auf der Erde schließt diese Erde in sein Spiel mit ein, da er sich aus den Kreisläufen dieser entfernt hat, in denen es kein Anfang und kein Ende gibt, sondern nur verschiedene Stadien der Transforma­tion. Aus solch einer planetarisch-ökologischen Sichtweise wären dann etwa alle Versuche, den Sinn des Menschen durch Interpreta­tion seiner "Abfälle" zu erkunden, hinfällig: Die Stellung des Men­schen als einzi­ges Lebenwesen der Erde, das Abfälle produziert, be­hielte auch durch Rekonstruktion derselben ihre vollständige Aliena­tion.[74] Die Leere, die man spürt, schaut man in Richtung Zukunft oder in Richtung Vergan­genheit (für viele, für im­mer mehr sogar scheint diese Vergangenheit der letzte Halt zu sein), diese Leere nicht nur an alternativen Formen des Zusammenlebens, Zusammenwirtschaftens, Zusam­menverkehrens, sondern auch an kollektiver Phantasie, an Imaginati­onskultur, diese Leere ge­winnt mit der Systemtheorie und der Theorie der Kognition ihre er­kenntnis- und wissen­schaftstheoretische Fas­sung[75]: beide gehen aus vom Nichts, aus dem heraus sich etwas selbst schafft, aber auch (bis es stirbt) selbst bleibt. Beide riegeln le­bende bzw. kommuni­zierende Sy­steme hermetisch ab in ein jeweils als primor­dial zu verstehendes au­topoietisches System der Kognition bzw. der Kommunika­tion, von wo aus entweder über das Erlan­gen von strikt eigener Ge­schichte bestimmter rekursiver Or­ganisationen strukturelle Kopplung mit der Umwelt ent­steht, oder über das Erlangen einer eigenen Ge­schichte bestimmter re­kursiver Organisationen der zeitlichen Kopp­lung von Be­wußtsein und Kommunikation soetwas entsteht wie Konsens, Konsens allerdings, der niemals als Identität einer Diffe­renz (von Sy­stem und System, von Sy­stem und Umwelt) herhal­ten kann, sondern ima­ginäre In­stitution bleibt: für den einen und für den anderen. Jede Zusammenfas­sung des einen und des anderen ist eine Zusammenfassung durch ei­ne Beobach­tung, die als Beob­achtung hermetisch in der Ge­schlossenheit (aber nicht: Abgeschlossen­heit) des einen oder des ande­ren ver­bleibt. Was immer auch an Gemein­samkeiten durch Sprache, durch Bedeutungen, durch Handeln erzeugt wer­den mag: es bleiben Gemeinsam­keiten, die dem System systemimmanent an­eignungsfremd bleiben: "Wahrnehmung und Wahrnehmungs­räume spiegeln folglich keinerlei Merk­male der Umwelt, sie spie­geln vielmehr die ana­tomische und funktionale Organisiation des Nervensy­stems in seinen In­teraktionen".[76] Als Konse­quenz dieser Stel­lungsgabe des Menschen in der Natur und in der Welt verlören bestimmte Begriffe und Metaphern zur Be­stimmung des Men­schen ihren Halt: das "Du", das "Wir", das Bild des Spiegels (entweder der Natur oder des Selbst), der Begriff der So­zialisation, der des ge­neralisierten Ande­ren[77], der der (Holzkampschen) "Je-Meinigkeit" als Resul­tat einer ob­jektiv gesell­schaftlichen Wirklichkeit... . Zu­rück bleiben also, trä­fen kognitions­biologische und system­theoretische Be­schreibungen (die als Erklärungen auftreten) des Menschen zu, auf ewig unverbunden blei­bende Systeme des Lebens, der Sprache und des Han­delns, deren jewei­lige Zwecke nur Ema­nation der Zwecklosigkeit der Au­topoiese le­bender Systeme wären, also Konstruktionen, die nur im Raum der Beobachtung, nicht aber in "der" Re­alität wirklich sind".

"Ich bin eigentlich nicht so skeptisch wie Sie. Gewiß, es sind natur­wissenschaftlich generierte und codierte Modelle, die sich allmählich als Avantgarde der Reformulierung des­sen ge­ben, was man einst Sozial­wissenschaft nannte. In ge­wisser Weise wiederholen wir die Anfangs­zeit der Aufklärung des 15. und 16.Jahrhunderts, in der die naturwissen­schaftliche und auch die technische Revolution die Vorgaben fürs ge­nuin so­ziale Entwerfen von Modellen machten. Schufen damals jedoch De­cartes, Bacon, Locke und der aufkommende Industrialismus erst die se­mantischen und materialen Vor­aussetzungen für eine wissenschaftlich-technische Zivilisa­tion, innerhalb derer neue Formen und Interpreta­tionen des Menschen erst ausprobiert werden konnten (bis hin zu Mar­xens Bild der Industrie als das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte), so stehen wir heute vor der Aufgabe, Formen und Inter­pretationen des Menschen jenseits seiner technologischen Welt zu den­ken (und zu kreieren): Ein Unterfangen, daß zur Voraussetzung hat, daß sich der Mensch in Distanz zu bringen vermag zu seiner zweckratio­nalen, zu seiner maschinisierten Zurichtung (etwa der abendländischen Logik), also sich zu befreien wüßte aus seinen Hüllen als Markt-, Wa­ren-, Funktions- und Subjekt-Objekt-Subjekt. Die Frage ist nicht mehr entlang einer neuen Sondierung des Kommensurabelmachens von anthropo­logischem und technologischem Sein des Menschen zu beant­worten, die weiterhin innerhalb der Logik der Dissoziation Assoziation suchte, sondern entlang der Frage Godela Un­selds: Maschinenintelligenz oder Menschenphantasie[78]? Men­schenphantasie wäre der letzte ernstzuneh­mende Gegner einer sich technisch und gesellschaftlich ausbreitenden Digita­lisierung der sprachlichen und kulturellen Bezüglichkeiten des Men­schen, vorausgesetzt, es ließe sich nachweisen, daß die (nun technolo­gisch durch den gesamten anthropologischen Raum hegemonial hindurch­greifen könnende) Digitalisierung als Auslöschung jeder mate­rialen Identität nicht ihrerseits ei­ner bereits durch die Koordinaten subjek­tiver Selbsterhal­tung zurechenbar gemachten Phantasie entsprun­gen ist[79].

Dazu müssten bestimmte begriffliche Dyaden oder auch Leit­differenzen aufgebrochen werden, die bis heute das Selbst­verständnis des Menschen und seiner Bezüglichkeiten sowohl koordinieren als auch moderieren, wie etwa Ausnahme/Regel, Zu­fall/Notwendigkeit, Sinn ha­ben und Sinn ma­chen, Interak­tion/Kommunikation, System/Umwelt, Rationali­tät/Irrationalität, Kultur/Natur, Zweck/Mittel und Selbsterhal­tung/Selbstverwirklichung. Aber auch dann bleibt die Frage, ob man mit diesen Unselbstver­ständlichkeiten der Begriffe, mit dieser nötigen Sichtbarmachung der Blindheit bisheriger Sichtbarmachungsweisen im Handgepäck tatsäch­lich bis zu den Dimensionen vorankommt, in denen an­zusetzen ist, um zu verstehen, was heute in den Menschen, zwischen den Menschen, in und zwischen Kulturen, in den Städ­ten, den Gruppen, den Gesellschaften, den Umwelten und den Zukünften passiert respektive passieren kann. Die Frage ist, ob man mit einer neuen Architektur der Begrifflichkeiten, wie sie etwa bereits der biologische Kognitivismus und die System­theorie ausgebildet und sich damit bewußt jenseits einer "alteuropäischen Semantik" in Stellung gebracht haben, das Fugenlos­werden wirklich wird verstehen können, ohne wieder neue Gefüge und Ge­fügigmachungen unterderhand mit auf den Weg zu bringen, die das Fugen­los-Fremde in seinem Fremdsein enteignen: Identifizierung bliebe damit auf einem erweiter­ten Verhältnisniveau erhalten, Berechenbarkeit wei­terhin möglich, nur eingebettet in einem größeren Raum der Unord­nung, kurz: Die vor dem Hintergrund der okzidentalen Ratio­nalität logisch erscheinen müssende Beziehung zwischen Be­greifen und Ergreifen unter Abspaltung des Loslassens (dieses Loslassen wurde transformiert in ein Einlassen in technische Artefakte, deren Funktion es ist, Ergriffenes auf Dauer in ein Verfügungsverhältnis zu stellen, um Grei­fen zu kön­nen, ohne mehr begreifen zu müssen, um überhaupt dem noch Unbegriffe­nen seine eigentümliche Maßstäblich- und Wertigkeit zu entreißen und es vollständig am Maßstab der Verfügbarmachung abzugleichen). Man sieht, die Situation ei­nes Denkens, das zwischen Mimesis und Abstrak­tion, zwi­schen dem Besonderen und dem Allgemeinen, zwischen Verste­hen und Fest-Stellen changiert, um der eigenen Verkettung an das Prinzip Aneignung zu entgehen, läßt sich nicht an­ders be­schreiben als: 'Das Alte geht nicht und das Neue geht auch nicht'[80].

"Ich bin da nicht so fundamental skeptisch wie Sie. Die Sprache läßt doch immer noch erheblich Raum für Ambivalenz, die wir zur Zeit mehr denn je nö­tig zu haben scheinen. Sie selbst haben eben doch ein Bei­spiel gegeben mit dem Fugen­loswerden. Ohne jetzt im vorneherein (wenn überhaupt) die Frage nach Subjekt und Objekt zu entscheiden: Aber Sie kön­nen schon fragen, ob die Welt fugenlos wird, oder ob sie - endlich, möchte man hinzufügen - die Fugen los wird. Die erste Interpretation evoziert sagen wir tradi­tionelle Kri­tik, die zweite 'postmoderne' Af­firmation. Die erste Sicht klammert wohl noch Verfü­gen an Vermögen - verstanden als Bedingung zur Ermöglichung von noch nicht vorhandenen Hand­lungen -, die zweite verbindet die Befreiung aus den Gefü­gen der Welt mit der nun erst möglichen Verfügung über das Leben, wohlge­merkt das Leben als ein der Existenz sehr nahe gerücktes Dasein, und nicht als artifiziell herzustellendes gesellschaftliches Produkt".

"Und was passiert mit Ihrer Ambivalenz, wenn sich heraus­stellen sollte, daß das Ungefügigwerden der Welt die letzte, viel­leicht am weitesten entwic­kelte und brillante­ste Ausdrucksweise des Gefügig-SEINS von Welt darzustel­len trachtet; wenn sich herausstellen sollte, daß etwa kul­tureller Antitechnolo­gismus, Antiinstitutionalismus, Anti­rationalismus bloß unter Erlaubnis ei­ner systemtechnolo­gisch rigid ge­wordenen Welt allerlei Oppositionalismen und Al­ternativen in die theore­tischen und empirischen Lebens­welten hinein­streuen; daß also letztlich die Funktion sich in einem Stadium befindet, in der sie sich im Nichtfunktio­nieren aller noch technikperipheren Sphären wie Sozialisa­tion, Kultur und "Selbst" nicht bloß manifestiert, sondern wohl schon zu konstituieren ansetzt?"

"Was sie jetzt mit dieser Fragestellung versuchen, ist, jegliche Spu­ren von Redialektisierung, von Immanenz der Wi­dersprüche zu verwi­schen, die man, so man nicht endgültig mit dem Herauswurf der Vernunft aus der Geschichte ein­verstanden ist, an den vielfältigen Fronten ei­nes postmo­dernen Elends aus­findig machen könnte, das sich nun als Theorie ohne Bewußtsein und ohne Subjekt gestärkt in der Systemtheorie wiederfindet, die nun endlich die "Zumutung" (speziell der Handlungs­theorien) eliminiert zu haben glaubt, daß vor ihr ein Begriff des In­dividuums gewisserma­ßen nur durch Zeigen auf Menschen expliziert wurde.[81]

Okay, Sie können sagen, daß das Krisenmodell für die Konsti­tuierung des modernen Bewußtseins einen wohl idealen Rahmen abge­geben hat, heute aber, angesichts der weltweiten Ent­leerung von Dissonanzen, Brüchen, Krisen und Problematisie­rungen, ja, an­gesichts der Krise der Krise und des Reprä­sentationsprinzips (von der Politik bis hin zur Erkenntnis­theorie) kaum noch her­halten kann, um der postmodernen "Mein-Gesicht-ist-meine-Maske-Attitüde" eine Korrespondenz zu eröffnen zum Kontinent der ganz normalen modernen Ent­zweiungen, die erst den Blick freigeben auf einen un­tergründigen Univer­salismus, der bisher nur als Totalita­rismus einer Vernunft des Subjekts in den Zeiträumen sub­jektiver, so­zialer und objektiver Welten und deren Bezie­hungen untereinander ver­tikal hindurchgriff.

Man kann dann hingehen und über die lachen, die noch in der Wirklich­keit einen nicht nur empirischen, sondern auch logi­schen Unterschied machen wol­len zwischen sagen wir li­bidinaler Ökonomie und einer Ökono­mie der Be­gierde, zwi­schen Bedürfnis und Begierde, zwischen agonisti­schen Dis­kursen und Diskursen über Agonie, zwischen Autonomismus und Autismus, zwischen Ver­nunft und Mythos, Metadiskurs und Umgangsspra­che.

Bekanntlich bleibt einem das Lachen im Halse stecken; aber auch das bliebe einem erspart, da ja nicht mehr auszumachen ist, ob über Multi­codiertes eindeutig Traurigkeit oder Lu­stigsein, Nachdenklichkeit oder Zerstreuung, Sinn oder Un­sinn, Wirklich­keit oder Fiktion angebracht ist.

Was Sie aber nicht mehr können ist, Ihren Denkhorizont zu erreichen, und das heißt: ihn zu entgrenzen. Auch wenn die Postmo­derne, Sektion Philoso­phie, die zeitgemäße Formgebung der Erfahrung einer äußersten Grenze jener Logik des Zer­falls ist, die schon von Hegel als modern bezeichnet wurde: Wie soll sie je ihre Verunmöglichung einer rationa­len Ana­lyse der Zerstörung der Vernunft als Chiffre bedeuten kön­nen, die vernünftig, d.h. hier universell und der Totalität verpflichtet, das Ende der Vernunft proklamiert? Einzig möglich bliebe nur noch eine bestimmte epikuräische Atti­tüde des Abwinkens. 'Die Liebe erregt und ermüdet, das Han­deln verzettelt sich und geht fehl, niemand gelangt zum Wissen, und das Denken färbt alles trübe. Besser ist daher, unser Wünschen und Hoffen einzustellen, den vergeblichen Anspruch, die Welt erklären zu wollen und das törichte Vor­haben, zu verbessern und zu re­gieren, fahren zu lassen. Al­les ist nichts oder, wie es in der grie­chischen Anthologie heißt: Alles kommt aus der Unvernunft, und es ist ein Grie­che und also ein rationaler Mensch, der das sagt. Wir wer­den gleichgültig bleiben für Wahrheit oder Lüge aller Reli­gionen, aller Philosophien, aller umsonst nachprüfbaren Hy­pothesen, die wir Wissen­schaften nennen. Ebensowenig wird uns das Schicksal der sogenannten Menschheit kümmern, das, was sie in ihrer Gesamtheit erleidet oder nicht erlei­det.'[82] Wir werden..."

"...Ja, wir werden heiter sterben, ich weiß. Und doch ge­nügt diese Einsicht nicht, wenn man den Zeitpunkt verpasst hat, sich aus dem Le­ben zurückzuziehen. Es bleibt, und sei es ganz krude gesehen bloß als Ausfluß unseres Mangels an Phantasie, nichts anderes übrig als festzu­stellen, daß wir noch übrig sind. Wir leben noch zuwenig als daß wir uns schon vom Leben verabschieden oder es hinter uns lassen könnten. Und darüber müssen wir reden. Wir müssen dar­über reden, warum wir noch da sind, obwohl wir uns nie ver­wirklichen werden - nicht im Leben, nicht im Reden, nicht im Selbst und schon gar nicht im Anderen. Wir müssen dar­über reden, warum wir den Frieden wollen, obgleich wir die Fähigkeit verloren haben, den Unterschied zwischen Krieg und Frieden zu hören.[83] Wir müssen...- das ist unsere Freiheit."

"Wir müssen, wir müssen - das ist mir zu kryptisch. Ster­ben? Ge­schenkt. Leben? Geschenkt. Hoffen, arbeiten, ver­zweifeln, lieben? Un­mögliches machen? Gemachtes verunmögli­chen? Paradoxien als aushaltbare zu Boden zwingen? Ge­schenkt. Den Tod beschwatzen lernen anstatt ihn zu prakti­zieren? Vielleicht. Vielleicht ist es unsere Aufgabe, den Tod in ein Gespräch zu verwickeln, bis sie uns fragt, ob wir auch noch etwas zu Trinken bestellen wollen, bis sie uns sagt: Oh, heute habe ihre Wahrheit vergessen, mit Flei­schermessern eure Schlafzimmer aufzusu­chen, bis sie uns fragt: Zu dir oder zu mir? - Freiheit!? Freiheit heißt jetzt Kontingenz, denn wozu noch fragen: Freiheit wovon oder Freiheit zu was? Daß weniger Menschen unnötig sterben? Daß möglichst alle frei sind, über sich zu bestimmen? Selbst nachdenken, selbst sprechen, selbst arbeiten und selbst lieben? Geschenkt, weil zu teuer erkauft. Die Arbeit beginnt im Alten aufs neue. Alles Gegebene wird..". [hier langsam ausblenden]

 

 



[1] N. Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd.6, Opladen 1995, p55-112, hier: p112.

[2] P. Furth, Phänomenologie der Enttäuschungen. Ideologiekritik nachtotalitär, FFM 1991, p102 + p103.

[3]  C. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, (dt.), FFM 1984, p76-77.

[4] "[...] breiten sich Armut, Verelendung und Verwahrlosung gleichmäßig über den gesamten negativ gleichzeitig gemachten Erdball aus." - R. Kurz, Das Ende der Neuen Weltordnung. Ein Essay zur globalen Ökonomie und Politik nach dem Epochenbruch, in: Zeitschrift für kri­tische Theorie, 1/1995, p23-42, hier: p38.

[5] Siehe für das folgende: J. Habermas, Der philosophische Dis­kurs der Moderne, FFM 1988, p367.

[6] Aus einer anderen, mehr körperbetonenden Sicht wird dann selbst die gutmeinende, aber schlecht handelnde Vernunft selbst abgeleitetes Moment einer tätigen Einbildungskraft und also jedes Wiederaufrich­tenwollen eines Modus' von Vernunft zu einem viel zu flach ansetzen­den Unternehmen.

[7] Christoph Türcke etwa geht so vor, wenn er in seinem Aufsatz über "die Sensationsge­sellschaft" (in: Die Zeit, Nr.35/1994, p32) folgen­des schreibt: "Was ist nicht für Aufhebens um die Ausrufung des po­stindustriellen und später des postmodernen Zeital­ters gemacht wor­den, ohne daß sich die Grundverhältnisse der warenproduzierenden Ge­sellschaft auch nur irgend geändert hätten. [...] Um so wichtiger die Feststellung, daß 'Sensationsgesellschaft' kein neues Paradigma ist, [...] sondern nur die viel­leicht neueste Gestalt einer schon überalterten Gesellschaftsformation: der kapitali­stischen".

[8] Dieses "sowohl als auch" ist theoretisch schwierig durchzuhalten: Den einen führt es in eine Art Orwellsches 'Zwiedenken' (Bernhard Giesen), den anderen in eine Art Kniefall vor der Perseität von Pa­radoxien (Niklas Luhmann), und nur noch wenige zur Dialektik (Francis Barker).

[9] Man kann es auch anders formulieren: Das Reich der Freiheit als Reich des "prattein", des in sich zweck- und sinnhaften handelnden Tätigseins, das das Reich der Notwendig­keit, des "poiein" (also das Reich der Arbeit) hegemonial überformen sollte, ist erst mal das Gat­tungsverhältnis zwischen Mensch und Natur jenseits instrumentel­ler Ver­nunft orga­nisiert, dieses Reich des "prattein" also entpuppte sich als uneigenständig und nicht als Gattungskontrast zum Dasein als Sorge (Heidegger). Die "Agora" war in ihrem "Wesen" immer nur Markt, nur selten auch (öffentlicher, diskursermöglichender) Platz. - Systemtheoretisch kommt man zu einem ähnlichen Ergebnis betreffs der unhaltbaren Identität (N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd.6, a.a.O., p107).

[10] R. Kurz, Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch der Kasernenökonomie zur Krise der Weltökonomie, FFM 1991, p266.

[11] Ich schließe mich der Sehweise von Kurz an. Kritisch dazu: G. Fülberth, Zu Kurz, in: konkret 12/1991, p33-34.

[12] Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Per­spektive auf die Post­moderne, FFM 1991, p144.

[13] "Man" erinnert sich nicht mehr (an den "Auftrag"; Heiner Müller): aber nicht alle. Hauke Brunkhorst etwa erinnert sich nicht nur, son­dern behauptet Unverzichtbarkeit desselben: "Strikter Universalismus ist, wo es um Moral und Recht geht, auch dann un­verzichtbar, wenn man eingesehen hat, daß es Unrecht war und Unrecht bleibt, anderen, die das nicht wollen und lieber in einer sinnfesten Folter- und Sklavengesellschaft leben, unsere westliche Lebensform von außen aufzuzwingen" (Derselbe, Gefährliches Denken und die Zeit des Ver­gessens, in: FR, 27.8.94, p ZB3); in Anlehnung an Husserls Wiener Vorträge 1935 bezeichnet Luhmann eine solche Sicht sehr ungewohnt als "postkolonialen Kulturimperialismus"; siehe nur: Ders., Kultur als historischer Be­griff, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd.4, FFM 1995, p31-54, hier: p52. Fundierter kritisieren Th. Eber­mann/R. Trampert (Die Offenbarung der Propheten, Hamburg 1995, p245ff.), da sie weder anti- noch prowestlich argumentieren.

[14] R. Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: Der­selbe, Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, (dt.), Stuttgart 1988, p82-125.

[15] F.J. Czernin, die aphorismen. eine einführung in die mechanik, 8 Bde, Wien 1992, Bd.1, No.1.7, p63.

[16] Nicht ganz so fern für Dietmar Kamper, Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie, München 1995, p27.

[17] Versuch über den Tausch. Zur Kritik des Strukturalismus, Berlin 1979, Klappentext.

[18] Aus der Auswegslosigkeit der anderen lernen wollen: dies ist sehr milde formuliert. Man kann den selben Sachverhalt auch auf eine Ebene kultureller Mentalität bringen und feststellen, daß etwa das Wort "Schadenfreude" als deutsches Wort in fremden Sprachen deutsch beibehalten wird, weil hier, im sog. deutschen Kulturraum, Humor (Ironie, Relativismusfreundlichkeit) als überwundenes Leiden an der Welt (Jean Paul) sich nicht duchsetzen konnte (sondern eher Ernst und Geniekult). Solange die Zele­brierung der Einsamkeit als Grund­lage einer bestimmten geistigen Kultur nicht abge­löst wird, wird sich daran leider nicht viel ändern - Matthias Beltz steht immer noch auf einsamen Posten.

[19] "Was hoffen läßt, ist allein die Präzision, mit der die Soziologie die Welt über das Ausmaß ihrer unverschuldeten Ratlosigkeit in Kenntnis setzt", meinte zuletzt noch Thomas Assheuer in seinem Be­richt über einen Kongreß des Hamburger Instituts für Sozi­alforschung zum Thema "Modernität und Barbarei"; siehe: "Short cuts oder: Die Präzi­sion der Ratlo­sigkeit", in: FR, 5.5. 1994. Die Gentechnologie lacht darüber nicht schlecht, ist sie dem genauen Gegenteil ver­pflichtet: Nach nicht unseriösen Spekulationen dürfte es in 15 bis 20 Jahren möglich sein, alle 3 Milliarden "Geneinheiten" eines Men­schen binnen eines Tages zu identifizieren. Gesellschaftswis­senschaften müssen sich anstrengen, daß bis dahin der Wert offener Fragen als Antwor­ten auf Fragen nicht endgültig ausgemerzt ist und nur noch technologisierbare Antwor­ten akzeptiert werden.

[20] Es sind eigentlich acht Herausnahmen, nur daß die achte jetzt in den Fußnoten "versteckt" wird; während sie noch vor ein paar Jahren als der maßgebende 'Flaschenhals' zur Verortung eines Textes her­angezogen worden wäre. Es ist die "Tatsache", diesen Text an (früher stünde hier: mit) einem Computer erstellt zu ha­ben, also tippend und kompilierend, und nicht schreibend und überschreibend. W. Künzel und P. Bexte fordern gar eine neue Hermeneutik für computerproduzierte Texte (Allwissen und Absturz. Der Ursprung des Computers, FFM/Leibzig 1993, p77). Über die Veränderungen in der Einschätzung der Auswirkungen der Computerisierung aufs Denken, Handeln und auf die Gesellschaft im Text mehr. Vorerst ein Verweis auf  V. Flusser, Die Schrift, Göttingen 1987.

[21] Gegenbilder, die auf eine das ganze Leben transgredierende Identi­tät verzichten und beinahe eine Schizophronie zu operationalisieren im Stande waren, können in Andy War­hol und in William Gibson gesehen werden: Die Überschreitung war Bestandteil inner­halb des Alltags, und nicht der Alltag transzendiert in der Überschreitung.

[22] Besser heißt hier nicht in einem quasi normativen Sinne, daß das Gesagte mit dem Ge­meinten mehr übereinstimmt oder gar identisch wäre (unter Abzug der gebrauchten Zei­chen, die immer die Vermitteltheit von Bezeichnetem und Bezeichnendem mitbezeichnen), sich also in ei­nem gemeinsamen "Dritten" fänden (nämlich in der Regel in der Spra­che); besser meint ausschließlich die sehr weiche Kohäsion von Be­zeichnung und Bedeu­tung der Bezeich­nung mittels ihres Kompatibels­eins. Kompatibilität meint hier eine ausschließlich nega­tive Bestim­mung des Zueinander-Passens: Ich verstehe den anderen nicht deswe­gen, weil ich quasi an der Substanz des vom anderen Gemeinten teil­habe, sondern deswegen, weil ich keine Fragen mehr stelle; Verständ­nis oder Verstehen wären somit immer nur Zustände der Abwesenheit von Mißverständnis und Nicht-Verstehen. Oder, schwächer formuliert: Bedeutungsidentität ist weder als Qualität eines an sich Seienden noch als regeldeterminierte Invarianz zu verstehen, sondern "ist Produkt der Abweisung anderer Möglichkeiten", so Wolfgang Ludwig Schneider in seinem Aufsatz 'Intersubjektivität als kommunikative Konstruktion' (in: P. Fuchs u. A. Göbel [Hg.]: Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?, FFM 1994, p189-238, hier: p203, Anm.43). Siehe für das Verhältnis Spra­che/Interpretation Ernst von Glasersfeld: Über den Be­griff der Interpretation, in: der­selbe, Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum Radikalen Konstruktivismus, (dt.), Wies­baden/Braunschweig 1987, p86-96 [p92]. Für Ver­ständigung als unter­komplexere Form des Kommunizierens (im Vergleich zum Verstehen) gibt Luhmann die m.E. passende Einschätzung (in: Ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, p141), nämlich die, "daß man bei allen Versu­chen, sich zu verständigen, von der Unsicherheit des anderen ausge­hen kann. Wenn er sie leugnet, kann man sie ihm nachweisen. Verhand­lungen haben dann den Sinn, die Unsicherheit aller zu vergrößern, so daß man sich nur noch verständigen kann."

[23] Siehe dazu Georg Christoph Lichtenberg: Werke (in einem Band), hg. von Peter Plett, Hamburg 1967; sowie, in dessen Nachfolge stehend, Eckhard Henscheid, Sudelblätter, Zü­rich 1991.

[24] Diese Lesbarkeit müsste im Rahmen der hier aufgezählten Einschrän­kungen ihrerseits als bloß eine "Form" der Beziehung zu den drei Wirklichkeiten der sozialen, "objektiven" und subjektiven Welt be­stimmt werden (eine etwas gebeugte Variante der Einteilung von Haber­mas, 'TdkH', Bd.1, FFM 1988, p115 ff.), als eine, die in Konkur­renz steht zu anderen For­men der Organisation von Bezüglichkeit zwi­schen (mannigfaltiger) Erscheinungs­welt/Erfahrung und kategorialer Welt/Erkenntnis (Kants transzendentales Schema; Kritik der reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmidt, Leibzig 1944, p196 ff.), und zwi­schen Er­kenntnis und Form (Adornos 'Erfahrung'; GS, Bd.10/2, FFM 1977, p752), als da wären: Die Anschauung, die Imagination, die As­soziation, die Wahrnehmung, das (Zu)Hören und das Verdrängen. Das konkurrenzierende Verhältnis dieser Formen zur Les­barkeit ist aller­dings nur ein analytisches: Hat man entschieden, sich innerhalb be­grifflichen Schreibens auf­zuhalten, bleibt "logischerweise" nur das mehr intellektu­elle denn sinnliche Vermögen, zu lesen, also eine hö­here Dichte der Syntheseleistun­gen für das Triumvirat Bezeichnen­des/Bezeichnetes/Bedeutendes. Lesbar ist auch ein Film, eine Musik, ein Bild: umgekehrt bereitet es jedoch Schwierigkeiten, einen be­grifflichen Text hören, wahrnehmen oder der Anschauung zuführen zu wollen. Gewiß, es geht und wirft sicherlich neue Perspektiven ab, die dem Lesen nicht zugänglich sind (man denke nur an die Schrift­schreibkunst "Sho"). Aber solches Tun hätte nur noch die Vermittlung zum Thema, aber kein Thema mehr, das vermittelt würde (die Lesbarma­chung des Entzuges von Lesbarkeit wäre dann das Meta-Thema).

[25] Beharrt man auf den Generalhiatus des Menschen in Gestalt der Un­terscheidung Sinn-Na­tur, so weist die stetige, lange Zeit mit dem Wort Fortschritt etikettierte Transforma­tion der Unbegrifflichkeit der Natur in sinnvolle Problematisierungen einen inneren Zu­sammenhang auf mit den gesellschaftlichen Transformationen von Ge­fahr in Risiko. So wie diese durch ihre selbst gefährlich werdenden Umwandlungen immer das Nichtvermittelbare (die Gefahr) erinnern und als Hintergrund präsent halten, so per­petuiert die Umwandlung (man könnte auch sagen: die Produktion von Erinnerung durch Vernichtung des Sinnjensei­tigen) von Natur via Sinn-Konstitution die Präsens des un­begrifflich Anderen des Sinns: der Tod bleibt also als Ausgesperr­ter präsent in den Formen, die man benutzt, ihn auszu­sperren.

[26] Man kann sich nun fragen, was für eine Rolle das jahrtausendealte Paradoxie-Verbot für die Existenz von Systemen spielte und weiterhin spielt: War es eine Strategie der Entfaltung paradox grundierter Sy­steme oder wirklich eine Hemmung der Entfaltung? Und was bewirkt ein sich seit gut 2 Jahrzehnten langsam anbahnendes Paradoxieverbot-Ver­bot? Was wird sich dadurch entfalten?

[27] R. Kurz: Der Letzte macht das Licht aus. Zur Krise von Demokratie und Marktwirtschaft, Berlin 1993, p41-42.

[28] Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, p75f.

[29] Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, FFM 1990 (1970), p25.

[30] Unterscheidung als langsam paradigmatisch werdender Begriff für Be­schreibungen des Verhältnisses zwischen Formen der Weltbeschreibung wird ein Hauptpunkt der Abhandlung sein. Zu dessen Hauptinterpreten siehe: George Spencer Brown, Laws of Form, New York 1979 (Neudruck); siehe auch den fortgeschrittensten Anwender dieses Begriffs: Niklas Luhmann, Zeichen als Form, in: Dirk Baecker (Hg.), Probleme der Form, FFM 1993, p45-69; Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesell­schaft, FFM 1992, vorallem Kapitel 6.

[31] Ein etwas längers Zitat Derridas (aus seinem Versuch, Heideggers ontologische Diffe­renz anhand der Unterscheidung Anwesen/Anwesendes zu rekonstruieren): "Da die Spur kein Anwesen ist, sondern das Simu­lacrum eines Anwesens, das sich auflöst, ver­schiebt, ver­weist, ei­gentlich nicht stattfindet, gehört das Erlöschen zu ihrer Struk­tur. Nicht nur jenes Erlöschen, dem sie stets muß unterliegen können, sonst wäre sie nicht Spur sondern unzerstörbare und monumentale Sub­stanz, vielmehr jenes Erlöschen, welches sie von Anfang an als Spur konstituiert, als Ortsveränderung einführt und in ihrem Erscheinen ver­schwinden, in ihrer Position hinausgehen läßt. Das Erlöschen der frühen Spur des Unter­schiedes ist also 'dasselbe' wie das Zeichen ihrer Spur im meta­physischen Text. Dieser muß das Merkmal (marque) des Verlorenen oder Zurückbehalte­nen, des beiseite Gelegten, bewahrt haben können. Paradox an einer solchen Struktur ist, in der Sprache der Metaphy­sik, jene Umkehrung des metaphysischen Begriffs, die den folgenden Effekt produziert: Das Anwesende wird zum Zeichen des Zei­chens, zur Spur der Spur. Es ist nicht mehr das, worauf jede Verwei­sung in letzter Instanz ver­weist. Es wird zu einer Funktion in einer verallgemeinerten Verweisungsstruktur. Es ist Spur und Spur des Er­löschens der Spur. Der Text der Metaphysik ist damit erfasst"; J. Derrida, Die différance, (dt.), in: Peter Engel­mann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegen­wart, Stuttgart 1990, p76-113 [p107]. Wäre das schon wieder Metaphysik? Von ei­ner ande­ren Seite meinte Luhmann polemisch (im Kontext seiner Präferenz des sozialen Systems ge­genüber dem psychischen), "daß Phi­losophen, die an einer Subjektreferenz festhalten möchten, gezwungen sind, entweder unter Namen wie Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Hei­degger, Wittgenstein Texte zu interpretieren oder selber zu den­ken" (Die Wissenschaft der Gesellschaft, a.a.O., p63, Anm. 66). Selbst denken kann aber nur hei­ßen: gegen sein eigenes Denken, das Eigenes schon längst verloren hat und nur als Verzweiflung an der Aporie sich noch erinnerlich hält, zu denken, und nicht, wie in der Systemtheorie, zur Steigerung der Eigenkomplexität eines Systems für die Reduk­tion der Umweltkom­plexität strategisch eingesetzt zu wer­den. - Das andere, das noch bleibt, die kybernetisch belehrte Sy­stemtheorie Luhmanns, baut, auch wenn die Quellenlage nicht danach aussieht, sehr nah an den Texten sich auf, die Derrida, Deleuze, Zizek, Lacan produzierten (siehe nur: N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, FFM 1995, p491 und öfter, aber konträr p492).

[32] Richard Rorty (Kontingenz, Ironie und Solidarität, dt., FFM 1989, p45-51) siedelt die Voka­bulare, die im Laufe der Geistes- und Kulturge­schichte enstanden sind, alle auf einer Oberfläche an. Diese Ober­fläche wird bestimmt durch das blinde Schaffen und "Abtöten" von Formen der Sprache (eben Vokabulare), gleich der Schaffung und Abtö­tung von For­men des Lebens durch die blinde Evolution. Rorty versteht Vokabulare als Werkzeuge, die einfach zufällig für bestimmte Zwecke besser geeignet sind als andere oder frühere Werkzeuge (aber woher nimmt er die Kri­terien für dieses "besser"?).

[33] Aus einer syntaktischen Betrachtungsweise dieser Vokabulare ist die Verwendung des Wortes Name natürlich irrelvant, denn: "Wissenschaft ist ein System von Sätzen, nicht von Namen", wie es R. Carnap in An­spielung auf die These 1.1. des TLP Wittgensteins no­tierte (derselbe, Die logische Syntax der Sprache, Wien 1968, p230).

[34] Siehe hierzu Otto Ullrich, Technik und Herrschaft. Vom Hand-werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion, FFM 1979, p49-150, als historische Analyse die­ser Affinität.

[35] Mehr wissenssoziologisch geht dabei Peter Weingart vor in seinem Buch "Wissensproduktion und soziale Struktur", FFM 1976, mehr Tech­nik- und Industriesoziolo­gie betreibend dagegen Lothar Hack, Vor Vollendung der Tatsachen. Die Rolle von Wissen­schaft und Technologie in der dritten Phase der Industriellen Revolu­tion, FFM 1988. Einen Bogen zu spannen zwischen Luhmanns Theorie der Wissenschaft (Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1992, vorallem p271-361) und etwa der Ull­richs versuchen W. Krohn und G. Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, FFM 1989, vorallem p17ff.

[36] Ich teile die These W. Krohns (in Anschluß an B. Farrington), daß die Bedeutung Bacons für die weitere Wissenschaftsgeschichte maßgeblich darin zu untersuchen ist, daß er dem Erkenntnisinteresse und der Philosophie neben den bereits vorhandenen epistemolo­gischen Zugängen den Zugang zu einer wissenschaftspolitischen Einordnung verschafft hat (W. Krohn [Hg.]: Francis Ba­con, Neues Organon, 2 Teilbde., hier: 1. Teilbd., Hamburg 1990).

[37] Siehe den Überblick bei F.J. Varela, Kognitionswissenschaft - Kogni­tionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven, (dt.), FFM 1990, ein Text, der auf einen Auftrag der Royal Dutch Shell Corporation zu­rückgeht. Auswege aus der Sackgasse bieten zur Zeit Konzepte, die Intelligenz ohne Repräsentation zu denken suchen, oder Systemanaly­sen, die nicht mehr nach Funktionen, sondern nach Aktivitäten die Maschine zu planen versuchen. Siehe auch: Elmar Holenstein, Kogni­tive Wissenschaft, in: Information Philosophie, 1/1988, p5-14.

[38] Schlimmer sieht es aus bei der sozialphilosophisch fundierten Ge­sellschaftsanalyse: Ihr werden meist nur noch Grabesreden gehalten. Siehe mit Hinweisen J. Roth, Tote Philosophie, in: konkret 11/1995, p47.

[39] H. Brunkhorst, a.a.O., pZB3.

[40] Eine Ehrenrettung dieser Geschichten (und nicht: Geschichte) vor­nehmlich aus den Hal­len der "Kulturindustrie" versucht Siegfried Zielinski, wenn er als Motto seines Buches "Audiovisionen. Fernsehen und Kino als Zwischenspiele in der Geschichte", Reinbek 1989, ein Zitat Gon­courts, zitiert nach Curt Morecks "Sittengeschichte des Kinos", an­bringt, das in seiner trotzigen Eingenommenheit hier wiedergegeben werden soll: "Wenn man die alten Klassiker liest, einige hundert Bü­cher durchsieht, und daraus Auszüge auf Zettel macht, dann ein Buch darüber schreibt, wie die Römer sich die Schuhe anzogen, und wie sie liegend aßen - so nennt man das Gelehrsamkeit. Dann ist man Gelehr­ter. Man wird Mit­glied der Akademie, man gilt für bedeutend, man hat alles. Wählt man aber eines der nä­herliegenden Jahrhunderte, durch­wühlt einen Berg von Doku­menten, Tausende von Schriften, einige tau­send Zeitschriften, und macht daraus nicht nur eine Monographie, sondern ein...Sittenbild der Gesellschaft, so ist man nur ein lie­benswürdiger Nachspürer, ein netter Wißbegieriger, ein angenehmer Plauderer. Es wird noch einige Zeit vergehen, ehe das Publikum Hoch­achtung vor der Geschichte be­kommt, die wirklich interessiert".

[41] Das Sich-Einfinden in die Formen der Sekundenkultur ist das Sich-Aufgeben in der Zeit durch Aufgabe der Zeit, die über das Jetzt hin­ausgeht. Sich dem Rythmus des Hip-Hop, des Films, der Clip-Schnitte hinzugeben - den müden Ekstatismen des belanglosen Zeit­schriften-Lesens, des Fernbedienens, des maschinengleichen Stampf-Tanzens, des Lallens und auch des Fickens - all das ist ein kleiner Tod, hat zumindest Nähe zu ihm: er strahlt die nötige Hitze ab, die das Sich-Aufgeben braucht, um außer 'Ich' zu sein, also sich gut zu fühlen ohne Ich oder sich. Rausch hat es geschafft, institu­tionalisiert, technisch in den Alltag implementiert und doch weiter­hin wirksam zu sein als Entgrenzung desselben, quasi in light-Ver­sion, ohne Initiation, (noch) ohne leid- und blutvolle ri­tuelle Be­gleiterscheinungen (außer der, nicht mehr an seine ei­genen Schmerz­punkte zu kommen), ohne Brimborium und doch weiterhin wesentlich - aber nur noch für Sekunden. In dieser Sekundenkultur oder gar -welt, die als solche keine mehr ist, sondern einfach nur noch warmer Tüll, der einen nicht fallen läßt, wenn man (im Rausch) umfällt, in dieser also kann man sich gefangen nehmen lassen wollen. Das tun sehr viele zur Zeit, die radi­kal von der Perspektive einer langen Zeitachse (Utopie) runter zur Zeit der homöostati­schen Zeitlosigkeit des Hin und Her, des Bum-Bum, des Finger-Schnippens, des joy of re­petition geschaltet haben. Die Einsicht, daß mit der Zeit, in der wir leben, etwas los ist, und nicht nur bloß in ihr, dämmert vielen: sie ziehen sich zurück in sie, um nicht mehr mit ihr zu kollidie­ren.

[42] Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe (des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares), (dt.), FFM 1987, p194.

[43] So Thomas Groß in einer Rezension von Rainald Goetz' Werk 'Festung', in: TAZ, 21.8.1993, p13-14 [14].

[44] Die Inadäquanz musikalischen Ausdrucks selbst Ausdruck werden zu lassen ist ein schon lange versuchtes Konzept in der Musik (man höre etwa "musiqua inpura", für Sopran, Gi­tarre und Schlagzeug, von Mathias Spahlinger). Eine Adaption fürs wissenschaftliche Schrei­ben dürfte noch lange Zeit vielen Kopfzerbrechen bereiten.

[45] Man kann hier mit Heinz von Foerster auch von Transdiziplinarität spre­chen, ohne allerdings den Anspruch zu haben, das Verstehen als sol­ches zu verstehen (Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, (dt.), hg. von S.J. Schmidt, FFM 1993, p285).

[46] Für Maurice Merleau-Ponty läge in diesem Unterfangen ein Wider­spruch vor. Er schreibt (Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, dt., hg. v. Claude Lefort, München 1994 [2.Aufl.], p41-42): "Wäre die Wahrnehmung durch 'Introspektion' sich selbst ge­geben oder wäre sie konstituierendes Bewußtsein des Wahrgenommenen, so müßte sie defi­nitionsgemäß und grundsätzlich Selbsterkenntnis und Selbstbesitz bedeuten - sie könnte dann nicht offenen sein für Hori­zonte und für Fernen, und daß heißt für eine Welt, die zunächst nur da ist für sie, und von der aus sie sich erst als deren anonymer In­haber erkennt, auf den die Perspektiven der Landschaft zulaufen."

[47] N. Luhmann, Soziale Systeme, FFM 1987, p156.

[48] Dito, p156f.

[49] N. Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd.6, Opladen 1995, p55-112, hier: p87. Auf der nächsten Seite schränkt allerdings eine Tautologie die vermeintliche Rück­sichtigkeit der Analyse wieder ein: wenn ein System nicht schon so­zialisiert ist, dann kann es sich auch nicht selbst sozialisieren.

[50] Die damit den Schritt vom subjektiven zum objektiven Idealismus nicht nachvollzieht, so Habermas (Der philosophische Diskurs der Mo­derne, FFM 1988, p429).

[51] M. Merleau-Ponty (a.a.O., p36) schreibt zu diesem Abstraktionsbe­reich kritisch: "Der Rückgriff auf ein 'Außen' dagegen gewährleistet als solcher noch keinen Schutz vor den Irrtümern der Introspektion, er verleiht unserer verworrenen Vorstellung von ei­nem psy­chologischen 'Sehen' nur eine neue Gestalt: er verlagert es nur von innen nach außen". Luhmann (Wissenschaft der Gesellschaft, a.a.O., p708) meint in Hinblick auf die Gleich­wahr- und unwahrheit von selbstreferentiellen und fremdreferentiellen Beob­achtungen: "Es gibt keine Wahrheitspräferenz für Introspektion". Natürlich gibt es diese nicht: sie wird gemacht, diese Präferenz (auch beim wenig Pro­duktcharakter be­sitzenden Bekunden subjektiver Wahrhaftigkeit ["ich habe Schmerzen!"]).

[52] N. Luhmann, Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie, in: Merkur, 4/1988, p292-300 [p292f.].

[53] N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., p492.

[54] N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p22-23.

[55] So S.J. Schmidt im Vorwort zum Sammelband von H.R. Maturana: Erken­nen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, (dt.), Braun­schweig/Wiesbaden 21985, p7.

[56] Das Wort Gespräch weist hier schon für den gesamten Raum der Ar­beit darauf hin, daß es sich, soweit die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt und das sich in ihr Erkennen gestellt ist, aus­schließlich um Aussagen handeln wird, die in der Dis­kursivität der Erkenntnis verankert sind, und nicht in dem 'Sein' des Erkannten (was ein sogenann­tes Abbildverhältnis implizierte). Wir sprechen nicht von Natur, Welt und Sein, sondern mit Auffassungen und Inter­pretationen über diese in Sätzen miteinander.

[57] Es geht hierbei um den Begriff der Identität (der Philosophie, der Aufklärung, der Vernunft). Entfaltet werden wird, ob dieser bloß u.a. aus der Sicht seiner Herrschaft zu begreifen ist (womit dann die Herrschaft des Identitismus sich in einen bloßen Anwen­dungs- und Gebrauchsfall verflüchtigte), oder ob Herrschaft die notwendige und hinrei­chende Bedingung der Ermöglichung von Identität ausmacht. In diesem Zusammen­hang wäre eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Horheimers und Adornos zum Idea­lismus notwen­dig.

[58] Productio contra creatio galt und gilt als die passende Unter­scheidung für diesen Sachverhalt. Die Frage ist und bleibt, ob Pro­duktion zur Kreatürlichkeit des Menschen gehört, etwa so, wie Arti­fizialität ein natürliches Bedürfnis der Menschen sei kann.

[59] Okzidentaler Rationalismus steht hier als Begriff jenseits der Entscheidung, seinen 'umfangslogischen' Raum mittels einer kultur­theoretischen oder einer universellen Be­stimmung zu ermitteln. Die faktische Hegemonie formal-operationalen, logischen, funktio­nalistischen Denkens als bloß notwendiger (so Habermas) bzw. notwen­dig und hinreichender (so Weber) Ausfluß der Entzauberung der Welt, die ihrerseits Vorausset­zung für das mo­derne Weltverständnis ist, erlaubt hier diese Indifferenz. Aber auch hier wird der Frage nach­gegangen werden müssen, ob die moderne Ver­nunftfassung 'Rationalität' sich an sich als subjektlos konstituiert (und sich also durch/an "subjektlose/n Subjekte/n" exekutiert), oder erst durch den intersubjektiv 'richtigen' Gebrauch (Habermas' kommunika­tive Rationalität) ihr dann noch vorhandenes emanzipatives Potential zu entbinden vermag.

[60] Als Beispiele für solche Anschlüße siehe etwa: R. Koselleck, Ver­gangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, FFM 1979; K.H. Haag, Der Fortschritt in der Philoso­phie, FFM 1985; R. Kurz, Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozia­lismus zur Krise der Weltökonomie, FFM 1991; und K.H. Tjaden, Mensch - Gesellschaftsfor­mation - Biosphäre. Über die gesellschaftliche Dialektik des Verhält­nisses von Mensch und Natur, Marburg 1992.

[61] Als Vertreter dieser (sprachanalytischen) weichen Transzendenz gelten u.a. J. Habermas, H. Putnam und Th.A. McCarty. In seinem Aufsatz "Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen" (Merkur 1/1988, p1-14) schreibt Habermas, daß "die für Pro­positionen und Normen beanspruchte Geltung Räume und Zeiten transzendiert, aber der Gel­tungsanspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontex­ten erhoben und mit fak­tischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zu­rückgewiesen" (p12). Und, eine Seite weiter: "Die kommunikative Ver­nunft ist gewiß eine schwankende Schale -aber sie er­trinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher See der ein­zige Modus ist, in dem sie Kontingenz 'bewältigt'". Was aber soll diese schwankende Schale auf hoher See, wenn ihr semantisches 'Bewältigen' dem Rauschen des Meeres nur ein weiteres Rauschen hinzu­fügt?

[62] Siehe N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, a.a.O., p332. 'Negierte Kontin­genz' - wäre dieser Luhmannsche Topos direkt ver­gleichbar mit Habermas' 'doppelter Nega­tion von Geltungsansprüchen', die für ihn der einzige Modus ist, in der eine ris­kante Kommunika­tion Bindungseffekte zu erzeugen versteht (Ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, a.a.O., p405)? Nein. Die Antwort auf die Frage, warum beide nicht ver­gleichbar sind, gibt Habermas einige Zeilen zu­vor (ebenda): "Lebenswelten können sich strukturell noch so weit ausdifferenzieren [...] - die Komplexität jeder Lebenswelt ist durch die geringe Belastbarkeit des Verständigungsmechanismus eng be­grenzt". Genau hier macht Luhmann nicht mehr mit, indem er den Zu­gang der Erklärung (Beschreibung) von Welt abgekoppelt wissen will von der zu engen Kapazität der sich verständigenden Menschen, Kom­plexität zu verarbeiten; für sie bleibt die Interaktion, die Wahr­nehmung, das Bewußt­sein übrig - Maßstab für die Gesellschaft sind sie für ihn nicht mehr (das meint sein Satz, den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschaft zu sehen und nicht mehr als Teil der Ge­sellschaft selbst; ders., Soziale Systeme, a.a.O., p288).

[63] "Obwohl die moderne Technik wesentlich durch die Zwecksetzung der politischen Ökono­mie des Bürgertums bestimmt und geformt ist, so hat die Entwicklungslinie technischer Vernunft doch ältere Wurzeln. Sie lassen sich zurückverfolgen wenigstens bis hin zu den frühen Ansät­zen der formalen Logik im alten Griechenland. Technologie, die Syn­these von Wissenschaft und Technik, ist die Verstofflichung logi­scher Prinzipien in Raum und Zeit"; A. Bammé, Telematik und Gesell­schaft. Geschichtsmetapysische Spekula­tionen nach Marx, in: H.T. Blattner/G. Getzinger u.a. (Hg.): Telematik. Gestaltungsmög­lichkeiten und soziale Folgen, München 1990, p21-55 [p41]. Siehe auch: E. Holling, P. Kempin: Identität, Geist und Maschine. Auf dem Weg zur technologischen Zivilisa­tion, Reinbek 1989.

[64] So D. Baecker im von ihm herausgegebenen Band "Probleme der Form", FFM 1993, p9. Als weitere Versuche, dem Leitmotiv 'Alles muß haar­genau in eine tobende Ordnung gebracht werden' (A. Artaud) immer mehr semantische Felder zu übergeben, können gesehen werden: die physika­lischen Theorien des deterministischen Chaos' (etwa F. Cramer, Chaos und Ord­nung. Die komplexe Struktur des Lebendigen, Stuttgart 1988); die (aus der Termody­namik herrührenden) Theorien der dissipativen Strukturen (etwa I. Prigogine, I. Stengers: Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, dt., München 1986 [5., erw. Aufl.]; Theorien der fraktalen Geometrie (siehe etwa H. Jürgens, D. Saupe, H.-O. Peitgen, Bausteine des Chaos: Fraktale, Heidelberg (u.a.) 1992; sowie die Forschungen in den Bereichen der Diskreten Mathematik, der Synergetik und der neuronalen Netzsysteme. Kurt Gödel, Henri Poin­caré, Werner Heisenberg und Albert Ein­stein hat man sich allerdings als Hintergrund vorzustellen. - Eine hier interessante Frage ist, ob all diese Formbegriffe nicht doch auf die Seinsverfassung namens "causa formalis" sich beziehen lassen, in der das Seiende bloße Ge­genwart, pures Beharren ist mit einer ihr äußerlichen Zeit. Kyberne­tik hätte dann bloß die Aufgabe erfüllt, totem Seienden eine innere Zeitlichkeit zu verleihen.

[65] "Während Sprachphilosophen oft meinen, Sprache sei ein System (wenn nicht gar: das einzige System für die Koordination von Lebens­zusammenhängen), ist für die hier vorge­stellte Analyse entscheidend, Sprache als Nichtsystem anzusehen, das Systembil­dungen im Bereich von Bewußtsein und Kommunikation erst ermöglicht, indem es die strukturelle Kopplung der beiden Systemarten ermöglicht"; N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesell­schaft, a.a.O., p51.

[66] Freuds Kennzeichnung des Preises für den Fortschritt der kulturel­len/zivilisatorischen Entwicklung als "Glückseinbuße durch die Erhö­hung des Schuldge­fühls" (Studienausgabe, hg. von A. Mitscherlich u.a., FFM 1969ff., Bd.IX, p260) darf von heutiger Sicht aus als zu optimistisch angesehen werden; erhöhtes Schuldgefühl erscheint heute als bloß Intermittierendes in der Entwicklung zur völligen psychi­schen Inkonti­nenz.

[67] Jürgen Neffe: Alle Macht den Genen?, in: Der Spiegel, Nr.51/1993, p168-171; Gerhard Vowinckel, Homo sapiens sociologicus oder: Der Egoismus der Gene und die List der Kultur, in: KZfSS, 3/1991, p520-541.

[68] J. Derrida, Grammatologie, (dt.), FFM 1974. Der Begriff Supplement ist nur zu halten in ei­ner Unterscheidung, deren andere Seite ein Agens be­inhaltet. Bei Derrida ist das der "allgemeine Text" oder die (abhanden gekommene) "Urschrift": ein subjektloses Gesche­hen, das mit keiner Faser hineinragt in die "Geschichtlichkeit" und in das physische und semantische "Substrat" der Kommunikation; sie bleibt Vergangenheit, die niemals gegen­wärtig gewesen ist (Habermas). Eine ähnlich Trennung in Agens und Emanation un­ternimmt E. Husserl anhand der Unterscheidung Ausdruck/Bedeutung bzw. Zei­chen/Anzeichen, wenn er die orginäre Bedeutung eines Zeichens vollständig abkoppelt von pragmatischen (und logi­schen) Regeln der Herstellung von Bedeutungs­identität, wie es dann L. Wittgenstein analy­siert hat (E. Husserl, Lo­gische Untersuchungen, 2.Bde, hg. v. U. Panzer, Haag 1984 [vorallem Bd.2]).

[69] "Menschliche Geschichte, die fortschreitender Naturbeherrschung, setzt die bewußt­lose der Natur, Fressen und Gefressenwerden, fort"; Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Bd.6 d. GS, FFM 1970 ff., p348.

[70] Siehe Th.W. Adorno, M. Horkheimer: Die Dialektik der Aufklärung, FFM 1969 [1944], p50-87; T. Reucher: Der unbekannte Odysseus. Eine Inter­pretation der Odyssee, Bern/Stuttgart 1989. Reucher sieht in der Odyssee im Vergleich zur Ilias einen Fort­schritt in der Ge­staltung von Herrschaft, die sich hier auf die Einbeziehung persona­ler und sittlicher Verhältnisse verlassen muß, um zu funktionieren. Kommuni­katives Handeln würde dann zwar allein Mittel zur Erfüllung von Strategie, entließe aber auch durch sein Instandsetzen als notwen­dige Vergesellschaftsform Potenzen an Ambivalenz, auf die Habermas schließlich seine Konzeption der Eigenwertigkeit der Lebensweltra­tionalisierung fußt. - Im Text wird dieser Punkt wieder aufgegriffen.

[71] Hören wir Leibniz angesichts seiner Erfindung des dem arithmeti­schen Kalkül formal analogen Infinitesimalkalkül: "Denn meine Erfin­dung enthält den Gebrauch der gesamten Vernunft, ein Urteil in Kon­troversen, eine Interpretation der Begriffe, eine Abwägung der Wahr­scheinlichkeiten, ein Kompaß, der uns über den Ozean der Erfahrungen leitet [...]; eine Schrift, die jeder in seiner Sprache liest"; in: W. Künzel, P. Bexte: Allwis­sen und Absturz. Der Ursprung des Com­puters, FFM/Leibzig 1993, p50-52 [p51]: Brief von G.W. Leibniz an Herzog J. Friedrich (1679).

[72] Siehe dazu J. von Stenglin: Denken der Wirklichkeit. Eine sprach­lich und kognitiv fundierte Theorie der Erkenntnis, Würzburg 1990, p102-103.

[73] M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986, p180ff.

[74] E. Altvater, Der Preis des Wohlstands, Münster 1992, versucht mit­tels der Distinktion Entropie/Syntropie eine neue Einordnung der Ge­sellschaften in einer termodynamisch zu verstehenden Entwicklung zu begreifen: Die Bestimmung der Grenzen von Entropieproduk­tion wäre dann Ausgangspunkt für eine Kritik an den im pysikalischen Sinne Un­ordnung produ­zierenden Gesellschaften, gleich, ob es sich um kapita­listisch oder sonstwie organi­sierte handelte. Ökonomie wäre als men­schliche Ökologie und als sozialer Prozeß zu be­greifen. Meßlatte ei­ner nachhaltigen Entwicklung der organisierten Menschheit sind also pysikalisch und termodynamisch zu bestimmende Grenzen der Reproduk­tion, nicht mehr ge­nuin gesellschaftsinterne. Siehe auch als Bei­spiel einer naturalisierten Gesellschafts­kritik: R. Bahro, Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Berlin 1990; Parallelen gibt es hier zu C. Lévi-Strauss' Forderung nach einer Anthropologie als Entropologie (Traurige Tropen, dt., Ber­lin/Köln 1970, p366f.).

[75] Auf eine andere Fassung dieser Leere, eine in der Tradition Lacans stehende, die in dieser Leere einen anderen Namen für das Subjekt erkennt und dort erkenntnistheore­tisch verharren möchte (anstatt schnell wegzuschauen), wird noch ausführlich zurück­zukommen sein; siehe etwa Slavoj Zizek, Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, (dt.), Köln 1993, p206 (Anm. 124).

[76] H.R. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausg. Arbeiten zur biologischen Epistemologie, (dt.), Wiesba­den/Braunschweig 21985, p86.

[77] Auf die Konsequenzen für eine an Mead und Dewey bis hin zu Haber­mas orientierten Re­konstruktion der Menschenbeziehungen über die In­ternalisierung objektiver Sinnstruk­turen sowie auf die Konsequenzen anderer Beziehungsmodi zur Welt (Spiegelung, Aneig­nung) wird im Text nicht hingewiesen. Sorry!

[78] So der Titel ihres Buches; FFM 1992. Untertitel: Ein Plädoyer für den Ausstieg aus unserer technisch-wissenschaftlichen Kultur.

[79] Wäre dem so, dann hat man der Weisung D. Kampers zu folgen: "Um also überhaupt noch einen Begriff von dem, was vorgeht und in Zu­kunft kommt, gewinnen zu können, muß man weit zurück, vor die Mo­derne, vor die Geschichte" (D. Kamper: Zur Soziologie der Imagina­tion, München/Wien 1986, p148).

[80] W. Benjamins Entscheidung, lieber das schlechte Neue als das gute Alte zu versuchen, kann heute nicht mehr als Distinktion gewählt werden. Es ließe sich nicht mehr ausma­chen, aus welcher Ecke des utopieamputierten Denkraumes etwas Neues entspränge, das nicht schon durch seine Vergangenheit bis zur Unkenntlichkeit kontaminiert ist. D.h. nicht, daß es nicht schlechtes Neues auf dem Niveau des "In-der-Welt" gibt. Nur für die Welt ist dies vorbei, da es vorbei ist, "die Welt" noch denken zu können. Klärend vielleicht folgende Sätze Luhmanns (in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd.4, a.a.O., p53): "Die Inflationierung von Präfixen wie post- oder neo- sind Anzei­chen dafür, daß eine Grenze erreicht ist, die wie im Rück­stau alles in Postismen und Neoismen verwandelt und geschäftliche wie intellektuelle Werbung in Anspruch nehmen muß, um sich davon überzeugen zu können, daß das Neue besser sei als das Alte". Siehe auch den Aufsatz 'Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit?' im sel­ben Band.

[81] N. Luhmann: Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie, in: Merkur, 4/1988, p292-300 [p298].

[82] Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, (dt.), FFM 1987, p262-63.

[83] Im Fernsehfilm '3 Tage im April' von Oliver Storz (1995) fragt die schwerhörige Oma dauernd ihre Angehörigen, ob noch geschossen wird (es ist Anfang 1945). Nach einer genervten Antwort erkärt sie, warum sie immer fragt: Wer den Krieg nicht hört, hört auch nicht den Frie­den. Sie habe also Angst davor, sich noch so zu fühlen, als sei sie im Krieg, wenngleich es schon Frieden sei. - Wir wissen, daß die Diskriminante von Krieg und Frieden nicht mehr Schieß- und Bomben­lärm ist, verkau­fen dies gar als Frieden, der nun allenfalls noch ein Frieden des Krieges ist.