Blick zurück auf das, was „Genießen“ hieß.

Eine kleine Erinnerung an das Sexuelle als das Unzerstörbare

Bernd Ternes

 

Von Klaus Holzkamp habe ich nach Jahren inneren Disputs die Überzeugung übernommen, daß das Sexuelle gesellschaftlich „nur“ überformt, aber nicht in Gänze geformt werden kann. Es bleibt, wie weit auch immer diese Wirklichkeit sozial und politisch konstruiert wird, Teil innerhalb eines kleinen Ensembles des Unverfügbaren, des Restes, des Unvordenklichen – kurz: des nicht durch Kontrolle, Warenwerdung, Formalisierung und Angst Zerstörbaren. Abstrakter gesagt: Sexualität bleibt, wie weit auch immer ihre Struktur erkannt, wie weit auch immer die symbolische und imaginäre Bedeutung ihrer selbst sie selbst zu bestimmen vermag – Ereignis, selbst wenn man, wie Foucault, davon überzeugt ist, daß sie als Ereignis über Jahrhunderte kulturmachtpolitisch gezüchtet worden sei.

Einer der Eigenwerte eines Ereignisses ist es, Unwahrscheinlichkeit verfügbar zu machen, kurz: die Struktur als Selbstverständlichkeit inkomplett werden zu lassen – und damit Kommunikationsbedarf zu erzeugen, meist in der Dimension der Information. Das Ereignis als solches ist also Grundbedingung dafür, daß sich ein lebendes, teilnehmendes, beobachtendes und kognitives System ändert, weil der Systemzustand nach dem Ereignis nicht mehr der selbe sein kann wie vor dem Ereignis.

In der Dimension des Sexuellen drückt sich nun eine Besonderheit aus: es ist als „System“, als Vermögen, als Entität nachgerade die Verkörperung einer Struktur, die nur auf Ereignis aus ist. Das Sexuelle ist das Struktur gewordene Ereignis, ist die auf höchste Temporalität und geringste Vorgaben abzielende Weise, Ereignisse zu schaffen, zu gewärtigen und zu erleben. (Das Wettkampfsportsystem, das Glücksspiel und das Börsensystem funktionieren, grobschlächtig gesagt, strukturhomolog.) Es lebt von einer extremen Vergangenheitsunabhängigkeit, einer extremen Gegenwartswahrnehmung – und schließlich von einer extremen Ignoranz gegenüber der Zukunft (Folgen).

Die Formen, in denen dies praktiziert, erlebt, erlitten wird, nennt man wohl immer noch Genießen und Begehren, meist zu sich kommend resp. weiterhin fokussiert in der Monopolbefriedigungsform Orgasmus. Letzteres indes hat in der Werbung nichts zu suchen. Wäre dies so, würde Werbung vollständig selbstreferentiell, würde also auf nichts mehr verweisen (Ware). Die Begehrlichkeit evozierende Werbung würde ihre eigene Befriedigung mitliefern – das passiert meist nur bei Sex als Ware, also bei der Pornographie.

Sexualisierte Werbung versucht vergeblich, das Grundprinzip der Erotik, nämlich sehen zu lassen, was man und daß man nicht sieht (im Gegensatz zur Pornographie, die nur sehen läßt, was man sieht), zu kopieren, um das Begehren und Genießenwollen zu camouflieren. Im Sexuellen ist beides nur zu „haben“ ohne das Weltverhältnis namens Konsum. Die Warenkonsumwerbung versucht dies spiegelbildlich aufzufächern und damit zu imaginieren, daß Konsum ohne Begehren und Genießenwollen nicht zu haben ist. Es handelt sich mit dem Sexuellen in der Werbung also um ein „klassisches“ Displacement, um eine (längst nicht mehr experimentelle) Verrückung einer menschlichen Ausdrucksweise – um eine Art warenästhetische Erinnerung daran, daß mit der Sexualität gewiß sei, daß Menschen Körper haben und sind. Es ist eine Art Rückblick auf den noch nicht ganz zerstörten Menschen.

Wenn man in Rechnung stellt, daß im größten audiovisuellen Format, dem Kino- resp. Fernsehfilm, der getötete, ermordete, der verletzte, der verstümmelte, der zerstörte Körper immer noch Hauptagens der Narration ist, kann einem der sexualisierte Körper in der Werbung fast schon wehmütig machen. Trost indes gibt es nirgends.